Shikoku Henro – Pilgerreise auf Shikoku
Ein Reisebericht von Frau Rotraut Saeki
Ein Reiseartikel über die Insel Shikoku hat in mir Wehmut und Nostalgie erwachen lassen. Tatsächlich: Eine Art von Heimweh nach den berühmten 88 Tempeln der Pilgerroute auf Shikoku stellte sich ein. Ich weiß genau, von was ich rede, schließlich haben mein Mann und ich diese Wanderung von ca. 1400 km in all den Jahren, die ich nun schon in Japan lebe, 2 1/2 Mal absolviert. Die erste Reise traten wir an, als ich erst kurz in der neuen Heimat war. Mein Mann wollte mir das alte Japan zeigen. Damals reisten wir die vorgeschriebene Strecke zu Fuß, per Bus und per Bahn ab. Wir brauchten ungefähr sechs Jahre dazu. Das zweite Mal unternahmen wir das Abenteuer zusammen mit Freunden von der Universität Hiroshima, und streckenweise auch mit einem sehr exzentrischen Herrn, den wir unterwegs aufgelesen hatten, oder vielmehr, der sich an unsere Gruppe anhängte und nicht mehr abzuschütteln war. Dieser Mann war und ist auch heute noch Besitzer einer Arzneimittelfirma und hat sich inzwischen zu einem bedeutenden Maler für sumi-e entwickelt. Nach einer Heilung von Krebs umwanderte er aus Dankbarkeit Shikoku zweimal zu Fuß. Unsere eigene zweite Reise fand teils zu Fuß, teils per Auto statt, und erst das 5. Jahr sah uns im Kubo-ji, der letzten Station und somit in Tempel Nr. 88.
Und nun befinden wir uns schon jahrelang auf der dritten Rundreise, und diese Rundreise soll die gesamte Strecke von 1400km zu Fuß gemacht werden. Wir gehen diesmal zu zweit, mein Mann und ich, und eigentlich sollte dieser dritte Aufbruch im Frühjahr 1995 erfolgen. Ich erinnere mich sehr gut, wie am Vorabend der geplanten Abfahrt die Rucksäcke schön gepackt in einer Zimmerecke standen, die notwendigen Henro-Utensilien darum herum verstreut, und wie wir mit Reisefieber ins Bett krochen. Der langerwartete Morgen dämmerte, und mein Reiseführer hatte 40 Grad Fieber entwickelt.. Lungenentzündung! Die Pilgerreise mußte um ein Jahr verschoben werden.
Wieso dauert nun so eine Pilgerwanderung um Shikoku etwa fünf oder sechs Jahre? Wir kriechen sie schließlich nicht, sondern marschieren eigentlich recht flott. Nun ist es leider so, daß ein japanischer Arbeitnehmer nicht einfach einen zweimonatigen Urlaub nehmen kann. Ein solches Ansinnen würde wahrscheinlich eine Entlassung zur Folge haben. Was macht also besagter Arbeitnehmer, wenn er es nicht lassen kann und trotzdem pilgern “muß”?? Er verwendet die Goldene Woche (Golden Week, kurz G.W), eine Zeitspanne im Frühling, die vom 29. April (Kaiser Showa’s Geburtstag, jetzt “midori no hi”) bis zum 5. Mai (kodomo no hi) reicht, und in der es außerdem noch den 1. Mai und den 3. Mai (Tag des Grundgesetzes) zu feiern gibt. Ein Einsehen der japanischen Regierung hat dem Volke auch noch den 4. Mai dazugeschenkt, und wenn man noch etwa vorhandene Wochenenden geschickt hinten oder vorne dranhängt, sich den einen oder anderen dazwischen fehlenden Tag von der Firma losreißt, kann man es manchmal auf 10 Urlaubstage an einem Stück bringen. Herrliche, freie Zeit, gerade passend für Shikoku. Man wandert so weit wie man kommt, macht auf der Landkarte einen dicken Punkt, dann kehrt man in den Alltag zurück. In der nächsten G.W. reist man an den markierten Punkt zurück und wandert weiter. So geht das Stück für Stück, und nach einigen Jahren kommt man endlich, wenn man nicht zu alt geworden ist und immer noch laufen kann, an Tempel Nr. 88, dem Kubo-ji, an.
So eine Wanderung auf Pilgersfüßen hat ihren ganz eigenen Reiz. Sie bringt das Gute und Schlechte im Menschen an den Tag. Bei der großen Anstrengung kann er sich nämlich nicht mehr verstellen, er zeigt irgendwann sein echtes Gesicht. Dazu kommt, daß man sich fast nur im Freien befindet, die Luft ist gesund, und in der G.W. ist die Frühlingsnatur in Shikoku wirklich wunderschön. Es ist eine Reise durch blühende Wiesen und Felder, über Berge im frischen Grün, und die Menschen sind in der Gegend dort sehr freundlich und hilfsbereit. Wir sind schließlich Reisegefährten des allerorts verehrten Kôbô Daishi!
Auf der anderen Seite ist zu bemerken, daß die Rucksäcke fatal schwer sind und niemals leichter werden, im Gegenteil! Man kriegt Sonnenbrand, sogar auf den Ohren, Blasen an den Füßen, und die Unterhaltung mit dem Reisegefährten beschränkt sich auf das Allernotwendigste. Man trottet stumm vor sich hin und hat immens viel Zeit, über den Sinn des Lebens im allgemeinen und den Sinn dieser irrsinnigen Fußreise im besonderen nachzudenken. Oft ist es nur dem Mantra Namu Daishi Henjô Kongô (etwa: Ich bezeige dir meine Ehrfurcht, o Daishi), immer und immer wiederholt, und in diesem Takt einen Fuß vor den anderen gesetzt, zu verdanken, daß man überhaupt im nächsten Tempel ankommt.
Der Pilger zu Fuß kämpft mit jedem Gramm Gewicht, das er schleppen muß. Nur die notwendigsten Dinge werden eingepackt, und beim Aussortieren ist bei uns auf der 3. Pilgerreise auch die Kamera auf der Strecke geblieben. Wasser und Lebensmittel sind wichtiger. Wie wichtig, das merkt man bald, wenn man stundenlang unterwegs ist und keinen einzigen Laden, geschweige denn eine Gaststätte finden kann. An der Straße stehen recht oft Schilder: “Das nächste Gasthaus gleich nach dem Tunnel links, Spezialität ist…” Ach ja, bis zu diesem Tunnel sind es vielleicht 5 km, und dann nur noch die kleine Strecke von wieder 5 km. Für jedes Auto eine Sache von Minuten, für einen Henro zu Fuß sind das aber ganze zwei Stunden! Ein Pilger nimmt, wenn er schon noch etwas mitnehmen muß, besser seinen Rosenkranz anstatt des Fotoapparates mit!
Henro in der Goldenen Woche 1997
26.4.97. Samstag. Wetter: Gut
Heute ist vorläufig der letzte Tag mit genauen Uhrzeiten. Wir fahren 8.04h in Nijô ab, weiter geht es von Kyôto um 8.35h mit dem Ocean Arrow Nr 3 nach Wakayama. Vom Bahnhof bringt uns eine Taxe zum Hafen, und wir besteigen die Fähre, die um 11.25 nach Komatsushima in Shikoku ausläuft. Im Schiff sind recht viele Reisende, denen man es von der Kleidung her ansieht, daß auch sie zum Pilgern unterwegs sind. Sie tragen die weiße Kleidung der Pilger (hakui). Der Hintergrund der weißen Kleidung: Früher ist man in weißem Gewand ins Grab gelegt worden. Der Pilger weiß, daß er auf der beschwerlichen Reise jederzeit sterben kann, und er bereitet sich dementsprechend vor. Wenn ihm etwas zustoßen sollte, sein Totenhemd hat er bereits auf dem Leib.
Um 13.25h Landung in Shikoku, der Bus bringt uns zum kleinen Bahnhof in Minami-Komatsushima, von dort aus geht es mit dem Zug um 13.47h nach der Stadt Annan. Wir treffen um 14.14. ein. Annan ist unser Ziel für heute, weiter kommen wir nicht. Beim Pilgern ist noch etwas zu bedenken: Die Unterkunft für die Nacht. Die Bleiben an der langen Strecke durch Shikoku sind willkürlich verteilt, und der Wanderer muß sich gut überlegen, und zwar vorher, wieviele Kilometer er pro Tag wohl schaffen wird, und wo er am Abend seine müden Glieder hinlegen kann. Ganz echte Henro haben natürlich solche Sorgen nicht, sie übernachten ohne Widerspruch im Wald, in Busbahnhöfen, in halbzerfallenen Schreinen oder Tempeln, oder auch auf Parkbänken, und zwar immer dann, wenn es zum Weitergehen zu dunkel geworden ist, oder ihre Füße sie einfach nicht mehr tragen wollen. Manche sollen am Tag schlafen und in der Nacht wandern, besonders im Sommer. Wir aber sind nicht ganz so echt, und wir wollen am Abend gerne ein Bett oder eine Matte, und das unter einem Dach, haben.
Das Hotel “Sun Ocean” ist sehr angenehm. Wir laufen noch ein wenig durch Annan, es gibt nicht sehr viel zu sehen, und Elan, um auf den Schloßberg zur Burg zu kraxeln, haben wir nicht. Wir müssen Kräfte sparen, für die eigentliche Wanderung.
Schrittzähler: 8900
27.4.97. Sonntag. Wetter: Gut
Im Hotel gibt es erst um 7 Uhr Frühstück, auch wenn der Pilger noch so unruhig ist und fortmöchte. Nach der Abspeisung bringt uns eine Taxe zum Byôdô-ji, dem Tempel Nr. 22. Bis hierher sind wir in der G.W. vor einem Jahr gekommen. Damals hat es geregnet, wir waren ausgelaugt gewesen und in Mißlaune. Heute hingegen sind wir noch frisch, das Wetter ist freundlich, und wir verrichten gerne unsere Andacht in dem schön am Hügel liegenden Tempel. Dann wandern wir starken Schrittes los, zuerst ein kleines und ruhiges Sträßchen entlang, dann aber leider, leider die Rt. 55, die uns lange begleiten wird. Sie folgt der ehemaligen Henro michi, also dem Pilgerweg, wie er über Jahrhunderte verlaufen ist, und es gibt nur wenig Möglichkeiten, ihr zu entfliehen. Unterwegs absolvieren wir verschiedene “Bangai”, Tempel oder heilige Stätten, die nicht in den Kranz der 88 aufgenommen sind, die jedoch oft mit Kôbô Daishi zusammenhängen, und die ein pflichtbewußter Pilger aufsucht. Wir kommen also an den Bangai Tsukiyô-an, Kanatsuchi-an und Fûdô-taki vorbei. Es ist der erste Tag der Wanderreise, wir sind munter und noch fähig, eine zusammenhängende Unterhaltung zu führen.
Kurz nach 13h marschieren wir in Tempel Nr. 23, dem Yakuô-ji, ein. Wir lassen unser Tempelalbum, das sog. nôkyô-chô, abstempeln, um beweisen zu können, daß wir hiergewesen sind, beten an der Haupthalle und der Taishi-dô, in der Kôbô Daishi verehrt wird, dann tun wir etwas, was wir bisher in all den Jahren der Pilgerreisen noch nie getan haben: Wir kaufen für jeden von uns ein oizuru, eine weiße, ärmellose Überjacke, die zur Pilgerausrüstung gehört. Dazu haben wir, das schon eh und je, unsere Pilgerstöcke (kongôzue), die Rosenkränze und das Täschchen für die Pilger-Visitenkarten (osame-fuda). Allmählich sehen wir aus wie echte Pilger!
Wir bringen die Rucksäcke ins “Hotel Cairns”. Dann wandern wir leicht und unbeschwert ans Meer, zur “bama-Küste”. Dort setzen wir uns an den schönen Strand und schauen auf die ruhige See hinaus. Der feine Sandstrand ist dafür bekannt, daß jedes Jahr Seeschildkröten zum Eierlegen hierherkommen. Einer der wenigen Plätze in Japan, die das noch erlauben.
Heute ist für uns die Welt in Ordnung, keiner ist fußlahm, und im Hotel futtern wir tüchtig. Man kann schließlich nie wissen, wann man die nächste richtige Mahlzeit kriegt! Kurz vor 20h geht es ins Bett. Niemand von uns hat Interesse am Fernsehen.
Schrittzähler: 36 762, ca. 22km
28.4.97. Montag Wetter: Wolkenbruchartiger Regen, dann wolkig
Hotel Cairns hat ein Einsehen und serviert uns das Frühstück bezeiten. Wir wollen fort, denn zum nächsten Tempel, Nr. 24, ist es sehr weit, fast 100km. Es regnet stark, wir hängen die Ponchos um, bewaffnen uns mit den Schirmen und gehen nicht besonders begeistert um ca. 7 Uhr aus dem Haus. Im Nu sind wir pudelnaß. Wir können nur laufen, immer laufen. An Pausen unterwegs ist kaum zu denken, wohin soll man sich bei dem Unwetter setzen? In einer überdachten Bushaltestelle mit Bank, endlich! machen wir Rast, Poncho ab, Rucksack ab, hinsetzen, ein paar Kekse essen, Rucksack auf, Poncho über, weiter im Regen. Und weil ich an der Bank herumsteigen muß, verrenke ich mir das Bein, die Folgen dieser Blässur bleiben mir für die ganze kommende Woche erhalten. Eine ländliche Kneipe lädt uns ein, mein armer Mann bestellt sich Grape, in der Hoffnung auf Grapefruitsaft. Enttäuscht betrachtet er, was da kommt, nämlich Crêpe, hübsch bunt mit Bonbon, butterdicker Sahne und Zuckerflitter verziert: Folgen der Umschreibung beider Delikatessen ins katakana! Ich biete mich an und esse das süße Zeug.
Weitermarsch im Regen bis zum Bangai Tempel Saba-Daishi. Dort verehrt uns der Priester, den wahrscheinlich unser durchnäßter Zustand rührt, ein Amulettchen. Es soll unser Gespartes hüten und vermehren, “hyakuman ryô” steht drauf. Ich habe das Papier zu unsern Bankbüchern und Kreditkarten gelegt, bis dato zeigt sich nicht der geringste Erfolg!
Der Himmel hat sich offenbar ausgeregnet, wir können Poncho und Schirm endlich wegpacken. Es geht weiter die Rt. 55 am Meer entlang. Bleierne Müdigkeit setzt ein, die Füße sind wie Pfannkuchen, und die nassen Socken haben uns viele Blasen beschert. Wir rufen das staatliche Hotel (Kokumin Shukusha) Mitoko-Sô an. Ja, sie haben ein Zimmerchen für uns, wir sind willkommen, und weil das Etablissement auf einem Berg liegt, werden sie mit dem Auto zur Straße runterkommen und uns aufsammeln. Kennzeichen: Ein japanischer Henro, männlich und ein ausländischer Henro, weiblich. Beide gebeugt an den Pilgerstäben stehend. Man entdeckt uns ohne Schwierigkeiten.
Das Hotel ist ordentlich, im japanischen Stil. Nur mit den Futons haben wir etwas Kummer. Die Deckbetten sind so merkwürdig klein, wie für Kinder. Auf unsere Nachfrage bei der Hausverwaltung belehrt man uns, daß es sich um sog. “hara-buton” handle, also Zudecken für den Bauch. Offensichtlich ist es egal, was mit den oberen und unteren Körperteilen geschieht, Hauptsache, der Bauch ist gut zugedeckt!
Schrittzähler: 45 519, ca. 42km
29.4.97, Dienstag, Wetter: Herrlich und ganz klar
Ich schlafe wenig in dieser Nacht. Meine Knochen beklagen sich…
Um ca. 7.30h marschieren wir müden Schrittes ab vom Hotel. Der berüchtigte 3. Tag hat uns in seinen Krallen. Wir brauchen alle paar Minuten Pause und hocken uns matt auf jeden Stein oder Baumstumpf. Und dabei ist doch die Landschaft so unvergleichlich schön! Links von der Straße wiegt sich der blitzblaue Pazifik, und rechts steigen die Berge, bedeckt von immergrünen Gewächsen, an. Ein sehr südlicher Anblick. Wir schleichen undankbar und still auf der Straße weiter. Lange Strecken treffen wir auf keine Ortschaft, kein Haus, keinen Getränkeautomaten, nicht mal ein Telefon. Es wäre im Notfall nicht möglich, ein Krankenauto herbeizurufen! Es ist heiß und man bekommt Durst. Ich erwische mich dabei, wie ich sehnsüchtig nach leergetrunkenen und weggeworfenen Coladosen gucke. Wenn es irgendwo Schatten gibt, und das ist nicht oft der Fall, hocken wir uns nieder, holen die große Nähnadel raus und operieren die Blasen an den Zehen. Ernst und stumm werden sie dann verklebt. Unter einem Baum machen wir Mittagsrast, jeder bekommt zwei oder drei Kekse, und eine Dose Tee teilen wir uns. Das langt aber nicht recht… Es wird ein Tag mit Wüstenerfahrung. Das ewige Blau des Meeres tut allmählich weh und treibt fast zum Wahnsinn. Namu Daishi Henjô Kongô, Namu Daishi Henjô Kongô! Fuß wird vor Fuß gesetzt.
Ganz unten in meinem Gepäck habe ich einen Schatz: Noch eine einzige Dose mit Tee. Die ist für dann, wenn einer von uns umgefallen ist! Nach Stunden, in denen wir von der Sonne gebacken werden, entdecken wir endlich ein kleines Rasthaus. Dort fallen wir ein und trinken alles Wasser in Reichweite. Die Wirtin wundert sich. Nun meldet sich auch der Hunger und wir essen das, was die sehr kurze Speisekarte anbietet. Was es war, weiß ich nicht mehr, es war jedenfalls köstlich. Nach einer Stunde sind wir soweit hergestellt, daß wir weiterhinken können. Gegen Abend erreichen wir das einzige Quartier in der Umgebung, Minshuku zaki. Eine mütterliche Frau, Witwe eines Seemannes, nimmt uns freundlich auf und jagt uns sogleich ins Bad. Dort waschen wir uns und unsere Socken. Die Füße sehen unheimlich aus, und das heiße Wasser tut sehr weh. Über den Schultern haben wir beide Striemen von den Trägern der Rucksäcke. Und Sonnenbrand haben wir auch gekriegt.
Die Pension ist sauber, das Essen sehr gut, und um 20 Uhr ist für uns der Tag zu Ende. Wir wollen nur Ruhe haben. Alle Fenster stehen offen, und ein schwerer, süßer Wind weht vom Meer her herein.
Schrittzähler: 40 433, ca. 27km
30.4.97. Mittwoch Wetter: Unbeschreiblich
Morgens um 6.40h Abmarsch von der minshuku. Die gewaschenen und noch nassen Socken habe ich mit Klammern am Rucksack festgemacht. Diese Mühe hätte ich mir sparen können: Wir treten vor den Hauseingang, und alle Schleusen des Himmels öffnen sich mit einem Male. Eine Art Wolkenbruch, begleitet von Donnerschlägen, geht nieder. Das Unwetter kommt so plötzlich, daß wir gerade noch die Schirme, die aber nicht mehr viel schützen, hervorzerren können. Eine Tankstelle kommt uns wie gerufen, nach einer langen, langen Weile! Wir fragen, ob wir uns ein wenig ausruhen dürfen. Die Füße tun entsetzlich weh. Der Tankwart traktiert uns mit grünem Tee und Geschichten über Pilger und ihre Unfälle. Ein großer Dackel knurrt uns an, besonders die Pilgerstäbe haben es ihm angetan.
Widerwillig, und mit endlich umgehängten Ponchos schleichen wir hinaus in den Platzregen. Der Dackel bellt uns triumphierend nach. Wir reden nun kein Wort mehr miteinander, jeder ist mit sich selber beschäftigt, und ich versuche, mich an Namu Daishi Henjô Kongô aufrecht zu halten. Auf der Straße steht das Wasser, es ist mir egal, und ohne zu zögern platsche ich durch knöchelhohe Pfützen. Zu müde, um ihnen auszuweichen. In den Schuhen bewegen sich Wellen, stelle ich mir wenigstens vor, und alle Pflaster, die um all die operierten Zehen gepappt sind, lösen sich ab und rutschen im Socken herum. Ist mir egal! Vorbeirasende Autos spritzen Kaskaden von Wasser über uns weg, ist mir auch egal. Namu Daishi Henjô Kongô. Mein Mann läuft voraus, ich trappe stumm nach. Der Abstand zwischen uns wird immer größer.
Um die Mittagszeit umrunden wir endlich unter Blitz und Donner das Kap Muroto. Eine Gaststätte zieht uns magisch an, und als wir hineingehen und auf dem Boden Pfützen hinterlassen, starren uns die Damen von der Bedienung ungläubig an. Dann aber helfen sie, die Ponchos abzunehmen, sie bringen uns Tee und vor allen Dingen einen Stapel Zeitungen. Damit stopfen wir x Mal die Schuhe aus, um sie wenigstens etwas trocken zu kriegen. Die Zehen werden frisch verklebt, dann erhalten wir Essen. Draußen regnet es wie doll.
Irgendwann aber müssen wir wieder gehen. Und da reißt der Regen ab, es wird neblig. Langsam suchen wir den Aufgang zu Tempel Nr. 24, Hotsumisaki-ji. Und es ist wie ein Wunder: Trotz aller Müdigkeit schaffen wir den Aufstieg über den steilen, regennassen Treppenweg leicht und ohne auszurutschen. Im Tempelbüro lassen wir unser Album abstempeln, die ganze Tempelanlage liegt in dichtem Nebel, und die Luft ist schwer und feucht. Wir unterhalten uns ein wenig mit der Frau des Priesters. Sie ist wie eine gute Bekannte, denn bereits zwei Mal haben wir in ihrem Tempel übernachtet. Das letzte Mal vor ein paar Jahren mit den Freunden aus Hiroshima. Ich erinnere mich ganz genau an den Morgengottesdienst damals: Der Priester kniete vor dem Altar und zelebrierte, und als er sich umschaute und wissen wollte, warum der Gesang der Gemeinde, die doch das Herzsutra singen soll, so dünn war, sah er, daß besagte Gemeinde aus drei ausländischen Frauen und zwei japanischen Männern bestand. Reichlich wenig also, um einen vollen Chor zu bilden! Und dazu auch noch Ausländer in der Mehrzahl! Der Geistliche verzichtete dann auch auf die Predigt und führte uns zum Schatzhaus des Tempels. Er glaubte sicher, das habe mehr Sinn!
Diesmal übernachten wir nicht im Hotsumisaki-ji, wir müssen weiter, denn es ist noch zu früh, um für die Nacht einzukehren. Wir humpeln die Muroto Skyline hinunter, alles ist total im Nebel, nichts von der normalerweise herrlichen Aussicht auf den Pazifik. In einer kleinen Drogerie kaufe ich die größte Packung von Heftpflaster, die sie haben. Der Regen ist fertig, ich aber auch. Ich kann nur noch schleichen, mir ist schwindelig, und ich habe das Gefühl, der Boden kommt mir entgegen. Namu Daishi Henjô Kongô!
Kurz vor 16 Uhr landen wir im “Business Hotel Fuji”. Wir hatten, auf den Namen hin, gehofft, daß es richtige Betten aufzuweisen habe, aber es ist die übliche Tatami-Sache. Und als Essen gibt es sehr viel Fisch. Man lebt schließlich am Pazifik. Mein Magen rebelliert, und ich bin ganz krumm vor Kreuzschmerzen. Der dünne Futon (senbei-futon = Bretterlmatratze!) bietet wenig Komfort. Aber ein Henro soll nicht meckern. Trotzdem: Heimweh!
Schrittzähler: 33 961, ca. 22km
1.5.97. Donnerstag. Wetter: Schön
Es ist eine schreckliche Nacht. Durch alle Glieder schießen wilde Schmerzen, die Füße sind irgendwie riesengroß und die Kniegelenke geschwollen. Die rohen Zehen mit den aufgestochenen Blasen zählen eigentlich gar nicht mehr: Das sind nur äußerliche Verletzungen, und notfalls kann man so einen Zehen auch entbehren!
Nachts um 2 Uhr halten wir Konferenz: Was tun wir eigentlich hier?? Daheim ist es doch auch schön, und man könnte… Ergebnis der Beratung: Wir ordnen das Gepäck, werfen alles Entbehrliche, und das ist auf einmal sehr viel, in einen Kasten. Der wird heimgeschickt. Wir selber versuchen, weiterzuwandern.
Das Frühstück aus gebratenem, rohem und gekochtem Fisch und ich glotzen uns an. Der Wirt begreift nicht, warum ich nicht herzhaft zugreifen will. Ich esse normalerweise die erste Mahlzeit am Tag, auch wenn sie japanisch ist, ohne Widerspruch, aber diesmal ist es irgendwie zuviel. Ach Gott, ein Königreich für eine Scheibe Brot. Sie darf gerne unbelegt sein. Und vielleicht ein sogar gekochtes Ei!! Ich will kein rohes mehr sehen.
Um 7 Uhr verlassen wir die Herberge und quälen uns die Treppen zum Tempel Shinshô-ji, Nr. 25, hinauf. Ich habe mich zu einem ganz richtigen Pilger, der sogar büßt, entwickelt: In den Schuhen, meine ich, müssen Erbsen, und zwar ungekochte, sein. Nachforschen fördert aber nichts zu Tage, nur Blasen. Ich schleppe mich unter Pein dahin und ärgere mich fürchterlich über meinen Guten, der auf einmal so frei und leicht dahinschreitet. Seine Fußverletzungen würden zu heilen anfangen, behauptet er! Es geht über ein kleines Landsträßchen durch sehr schöne Landschaft mit Blick auf das Meer. Überall blüht der Shii-Baum (Shii Castanopsis, ein Verwandter der Edelkastanie), und der Duft von den vielen Blüten ist unbeschreiblich süß. Nach einer Weile ist jedoch dieses angenehme Umgebungssträßchen zu Ende, und wir finden uns wieder auf der leidigen Rt. 55. Kurz vor Mittag will ich icht mehr weiter. Ich setze mich, ohne mich zu schämen, in eine Bushaltestelle und behaupte, es wäre genug für heute. Auch Namu Daishi Henjô Kongô hat keinen Erfolg mehr. Wir fahren mit dem Bus bis nach der Stadt Aki und finden im Hotel Tamai ein gutes Zimmer. Beim Empfang betrachtet man uns zuerst mißtrauisch, dann verständnisvoll, und gerne reicht man mir eine große Dose mit Wundsalbe. Das ist notwendig: Ein großer Zeh ist sehr groß geworden, dazu purpurfarben, und es muß etwas geschehen! Nach Bad und Essen verschlafen wir den restlichen Tag.
Schrittzähler: 20900, ca. 12km
2.5.97. Freitag Wetter: Schön — wolkig — Regen
In aller Frühe fahren wir mit dem ersten Bus die 30km bis zur gestrigen Bushaltestelle zurück. Wir wollen schließlich ehrlich jeden Kilometer laufen. Das große Gepäck bleibt im Hotel, bei uns haben wir etwas Proviant, das Tempelalbum, die Pilgerstäbe und auch die Schirme. Man kann nie wissen…
Wir wandern am Meer entlang und entwickeln, da wir unbepackt laufen, ein gutes Tempo. Die schmerzhaften Blasen sind tatsächlich am Abklingen, und der halbe Tag Rast hat den Knochen sehr gut getan. Auf beiden Seiten der Straße sind blühende Orangenhaine, der Duft der kleinen weißen Blüten ist märchenhaft. Leider winkt uns niergends ein Gasthaus, wir zehren von unsern Vorräten, und die kleinen Kuchen, die wir in Aki früh am Morgen kaufen konnten, sind nicht besonders gehaltvoll. Aber sie füllen.
Gegen 13.30h erreichen wir die Abzweigung, die zum Kônomine-ji, dem Tempel Nr. 27, führt. Erst geht es gemäßigt durch schöne Felder und Orangenplantagen, dann erreichen wir den Wald, und der Aufstieg wird steiler. Wir keuchen. Man merkt nun doch, daß wir den ganzen Tag noch keine richtige Mahlzeit zu uns genommen haben, der Elan fehlt. Der Berg wird unmöglich steil, wir setzen uns erschöpft ins Gras und verzehren die restlichen Kuchen. Eine junge ausländische Frau kommt mit ihrem Mountain Bike zu uns und fragt allerhand. Sie wird sich über die einsilbige Auskunft gewundert haben. Sie guckt, bilde ich mir ein, nach unsern Kuchen! Ich glaube, ich hätte nach der Frau gebissen, wenn sie etwas davon gewollt hätte! Sie stellt aber nur ihr Fahrrad ab und geht zu Fuß weiter. Neidisch betrachte ich ihre langen Beine und vergleiche sie mit meinen abgenutzten Stummeln.
Wir müssen weiter, die Steigung macht sehr zu schaffen: Namu Daishi Henjô Kongô. An einer Quelle können wir den brennenden Durst löschen, unser Tee ist nämlich schon lange ausgetrunken. Und endlich, nach einem Weg, der senkrecht nach oben zu führen scheint, erreichen wir tatsächlich Tempel Nr. 27. Die Frauen, die im Tempelamt sitzen und die Alben abstempeln, haben Mitleid mit uns. Sie füttern uns mit Tee, Kuchen und Bonbon. Dazu trinken wir noch literweise von Kônomines gutem Wasser, das den Berg hinunterschießt. Innerlich sind wir also wieder naß, nun sollen wir auch noch äußerlich naß werden, es fängt nämlich an, zu nieseln. Wir machen, daß wir fortkommen und schlittern eilig den moosglatten Weg hinunter. Nach oben war es anstrengend gewesen, das ständige Abbremsen beim Runtergehen hat auch seine Tücken. Besonders, wenn die Beine wie Pudding sind.
Aber wir schaffen unser Pensum, und zum Glück erwischen wir an unserer Bushaltestelle gerade einen der wenigen Busse. Kurz nach 17 Uhr sind wir wieder im Hotel. Draußen platscht es.
Schrittzähler: 44 350, ca. 30km
3.5.97. Samstag, Wetter: Wolkig
Heimreise nach Kyôto
Wieder ist eine herrliche Woche vorbei. Wir sind von Tempel Nr. 22 bis zu Nr. 27 gekommen. Das klingt sehr wenig. In Tosa (Kôchi-ken) liegen die Tempel sehr weit auseinander, es gibt in der ganzen großen Präfektur nur 16. Das ist die geringste Anzahl in allen vier Provinzen.
Für uns bleiben diesmal dauerhaft: Schöne Erinnerungen, und vorübergehend: Füße wie Pfannkuchen, mit schmerzhaften Auswüchsen garniert. Und nächste G.W. pilgern wir weiter!
Die Pilgerreise durch Shikoku übt eine magische Anziehungskraft aus. Wir haben uns mit vielen Pilgern unterhalten, und fast jeder sagt, daß er, wenn er die jetzige Rundreise hinter sich hat, an die nächste gehen will.
Shikoku selber hat einen unerklärlichen Zauber. Die Menschen dort, die Pilger schon über tausend Jahre täglich sehen und ihnen auf dem Weg forthelfen, sind allgemein sehr freundlich. Und wie oft haben wir diese Freundlichkeit selber erleben dürfen: Man schenkt uns Obst, Getränke und auch Geld. Diese Geschenke heißen o-settai. Es ist, für mich wenigstens, jedes Mal ein merkwürdiges Gefühl, die Hand auszustrecken und Geld entgegen zu nehmen. Irgendwie macht es bescheiden, vielleicht sogar demütig.
In Shikoku wagen es alleinpilgernde Frauen, mitten im Wald zu übernachten. Kûkai, Kôbô Daishi wird sie beschützen, so glaubt man fest. Und einem Pilger ein Leid anzutun kann nur Unglück zur Folge haben. Ein Pilger ist unverletztlich, so war es wenigstens lange Zeit. Man hilft sich auch untereinader gegenseitig. Wir haben einmal ein junges Mädchen, das beim besten Willen keine Bleibe finden konnte und überall abgewiesen wurde, eingeladen, bei uns im Zimmer zu übernachten. Dankbar und gleichmütig nahm sie diese Einladung ein. Der Daishi hatte geholfen, so glaubte sie fest. Daishi, der Heilige, der ungesehen mit uns wandert, ist allgegenwärtig, und auch ich kann sagen: “Ich habe den Daishi gesehen!” Das will heißen, er hat mir, als es notwendig war, seine Hilfe zukommen lassen. Diese Hilfe kann sehr verschieden aussehen: An einer Wegkreuzung ohne jeden Hinweis taucht im richtigen Augenblick ein Bewohner der Gegend auf und zeigt den rechten Weg, das schlechte Wetter kann sich plötzlich aufklaren, auch wenn der Wetterbericht mit Weltuntergang gedroht hat, kurz vor dem Verhungern findet man doch noch ein Gasthaus, oder ein lokaler Bewohner kommt auf die Straße gerannt, ladet einem zum Mittagessen bei sich ein, oder gibt einem einen Apfel usw. usw.
Noch eine Besonderheit ist zu erwähnen: Der Pilger hat eigene Visitenkarten (osame-fuda), und in jedem Tempel steht vor der Hondô und der Taishi-dô jeweils ein Kasten. Dort wirft man seine Henro-Visitenkarte hinein und zeigt damit an, daß man hiergewesen ist. Der normale Pilger hat weiße Kärtchen, der Pilger jedoch, der die Reise durch Shikoku mehr als 50 Mal gemacht hat, darf goldene Kärtchen haben. Und auf diese goldenen Zettel sind alle anderen Pilger sehr erpicht. Wenn man in einem Tempel angekommen ist, wühlt man eifrig in den Kästen und hofft, vielleicht, vielleicht einen der seltenen goldenen Zettel zu finden. Er soll Glück bringen, denn schließlich trägt er das Verdienst eines Menschen, der die Pilgerreise schon über 50 Mal durchgeführt hat. Besonders Kranke suchen nach diesen Wunderkarten. Wir haben gesehen, daß Schwerkranke in den Tempelbezirk gebracht werden, in der Hoffnung, daß vielleicht heute ein “goldener Pilger” vorbeikommt. Sie bitten ihn dann um dieses Kärtchen und erhoffen sich dadurch Genesung.
Selten habe ich etwas so Ruehrendes mit groesserem Vergnuegen gelesen. Ich bin selbst auch gern in Japan mit Muskelkraft unterwegs wie man aus meiner homepage ersehen kann. Ich kann deshalb sehr gut nachempfinden was in den einmalig schoenen Texten so trefflich beschrieben wird. Ganz grosses Kompliment und liebe Gruesse aus Bayern
Karl-Heinz und Hiroko
Das sind ja phantastische Bilder auf khfritsch.de. Da würde ich am liebsten morgen mein Fahrrad packen und losradeln.