Am Leiden anderer Anteil nehmen

Buchtitel: Japan. Fukushima. Und wir. Zelebranten einer nuklearen Erdbebenkatastrophe
Autor: Reinhard Zöllner
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2011
ISBN 978-3-86205-311-7

Reinhard Zöllner hat ein wichtiges Kompendium über die jüngere Geschichte Japans verfasst (in 2. Auflage 2008 als UTB-Taschenbuch verlegt) und darf als Japan-Kenner bezeichnet werden. Zum Datum des „Großen Ostjapanischen Bebens“ hielt er sich mit seiner Familie im Haus der Schwiegereltern in Tokio auf. Den tagebuchartigen Schilderungen der Ereignisse gelingt in strenger Selbstbeobachtung die Wiedergabe eines beklemmenden Moments: Wie der Autor zwar eine seiner Töchter vom Schulhof abholt, seine beiden verzweifelt winkenden Nichten aber übersieht. Man fragt sich bekümmert, wie man wohl selbst während ähnlicher Aufregung handeln würde.
Die Abläufe im durch den Tsunami havarierten Atomkraftwerk werden chronologisch nüchtern angeführt. Die Tatsachen bleiben bedenklich genug. Einmal geht dem Autor aber dann doch der Hut hoch: „Es ist ein Skandal, dass die japanische Atomindustrie im Roboterland Japan es verabsäumt hat, eigene Roboter für Notfälle vorzuhalten, und auf französische, britische und amerikanische Hilfe zurückgreifen musste.“(S. 46)
Die Kapitel über die Entwicklungen der Energiewirtschaft Japans erweisen sich als sehr aufschlussreich. Zum einen wird der Aufstieg der Atomindustrie nicht als jene Erfolgsgeschichte berichtet, als die Vertreter dieser Branche sie allenthalben erzählen – „Von 1981 bis 2007 wurden in japanischen Kernkraftwerken 499 Störfälle registriert (…)“(S. 99) – zum andern ist das Augenmerk, welches auf etwaige Alternativen gelegt wird, auch kein unkritisches. Selber würde man ja gern der Einschätzung so mancher Korrespondenten beipflichten, wonach Japan gut beraten wäre auf Geothermie, Solarenergie, Wasser- und Windkraft zu setzen. Doch, erstens, sind die Japaner darauf schon selber gekommen und, zweitens, schildert Zöllner recht eindrücklich diverse Machbarkeitsgrenzen (S. 108 ff.), die einem ansonsten selten vermittelt werden. Damit hat der Autor kein Patentrezept in petto, mit dessen Hilfe dem Vorhaben des gegenwärtigen japanischen Noch-Premiers Kan, schrittweise den Anteil der Nuklearenergie am Gesamtenergiehaushalt zu verringern, entsprochen werden könnte.
Jüngst äußerte der Bürgermeister von Hiroshima, Matsui Kazumi, in seiner Rede am Gedenktag des Atombombenabwurfs, das Vertrauen der Japaner in die Nutzung der Kernkraft sei erschüttert. In Wien erklärte der hibakusha Soda Kazuo: „Der Mythos der Sicherheit ist zusammengebrochen.“ Am 10. August (2011) berichtete Nagata Kazuaki in der Japan Times über eine öffentlich geführte Debatte zwischen einem prominenten Befürworter und einem ebensolchen Gegner der Atomenergie. Beide stimmten letztlich in der Einschätzung überein, ein weiterer ernsthafter Zwischenfall könnte das Ende der Atomindustrie in Japan bedeuten.
Der letzte Teil des Buches, der sich mit der Rolle der Medien beschäftigt, franst ein bisschen aus. Im Überschwemmungsgebiet aus Informationsflut und Desinformation, journalistischer Akribie und Skrupulosität Überwasser zu behalten, ist schon unter normalen Verhältnissen nicht leicht. Dass sich in der Berichterstattung so mancher Fernsehkanal und gewisse Blätter nicht eben mit besonderem Einfühlungsvermögen hervorgetan haben, ja mitunter den gebotenen Sachverstand vermissen ließen – ob das wirklich ein besonderes deutsches Phänomen spiegelt? Als Österreicher, blickt man über den eigenen Tellerrand, hegt man seine Zweifel. Merkwürdig, dass der Autor bei angeführten Namen stets ein Geburtsdatum in Klammer setzt. Die Aussagekraft des Alters in Verhältnis gebracht zum Ereignisrahmen erscheint mir gering. Aber das möge nicht als Einwand gegen das Buch verstanden werden!
Eines der ersten deutschsprachigen Arbeiten zum Thema. Gut aufbereitet, zeugt es von der Sachkenntnis des Verfassers. Es ist auch darin hilfreich, etwas Abstand von der eigenen ‚Betroffenheit’ und der boulevardesken Neigung zum Alarmismus zu gewinnen.



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