Reportagen aus Japan

Buchtitel: Reportage Japan. Kratzer im glänzenden Lack
Autorin: Judith Brandner
Verlag, Erscheinungsjahr: Picus, 2011
ISBN 978-3-85452-997-2

Als Tourist in einem fremden Land begibt man sich für gewöhnlich nach den Sehenswürdigkeiten und wähnt sich verführt, all das Wundersame und Verwunderliche wahrzunehmen, das man sich ins Poesiealbum der schönen Erinnerungen kleben kann. Spricht eigentlich auch nichts dagegen, solange man die Widerspruchsfreiheit seiner Idylle nicht absolut setzt. Ein Land, gleich welches, ist aber mehr als das wohl arrangierte Tableau seiner sonnigen Seiten. Judith Brandner vorzuwerfen, sie wäre auf Japans Schattenseiten abonniert, greift freilich zu kurz, bietet doch schon ihr erstes Erinnerungsstück in diesem schmalen Konvolut aus Berichterstattungsbeiträgen eine Huldigung an die japanische Küche und die großzügige Gastfreundschaft der Menschen. Ihr Augenmerk darüber hinaus auf Phänomene zu lenken, die eines Augenmerks in gewöhnlichen Reisereportagen eher entbehren, folgt wohl auch ihrem Selbstverständnis als engagierte Journalistin. Von der alarmierenden Zahl der Obdachlosen in den japanischen Städten und der Perspektivlosigkeit ihrer Lebenssituation vor dem Hintergrund einer restriktiven staatlichen Sozialfürsorge, überhaupt von der sich ausbreitenden Armut, verbunden mit der Praxis des Lohn-Dumpings, hat man freilich auch schon an anderer Stelle gelesen. Von den Umtrieben behämmerter Rechtsradikaler hört man gelegentlich und der Usus, mit der eigenen Vergangenheit wie mit einem pappigen Rosinenkuchen umzugehen, aus dem man sich allenfalls die Köstlichkeiten kletzelt, ist auch Österreichern nicht ganz fremd. Bei aller berechtigten Kritik an Japans Umgang mit seiner weniger rühmlichen Vergangenheit sollte aber nicht vergessen werden, dass da kein einziges ostasiatisches Land als Vorbild dienen kann. Welche Turbulenzen es auslösen kann, die Geschichte des 20. Jahrhunderts nach den Kriterien der historischen Wahrhaftigkeit nachzuzeichnen, lässt sich an diesbezüglichen Kontroversen in Südkorea immer wieder verfolgen. [Erinnert sei etwa an die Debatte um den Schöpfer der koreanischen Nationalhymne Aegukga oder die Rekonstruktion der Vorgänge um den Beinahe-Genozid auf Cheju-do von 1948.] In der VR China wird die Erinnerung an das Massaker von Nanjing nachgerade instrumentalisiert, das Gedächtnis von den Massenmorden aus späterer Zeit hingegen nach Tunlichkeit gelöscht.
Die Lage der von Verelendung bedrohten ‚südamerikanischen Japaner’, die aus den Zulieferbetrieben der Automobilindustrie zunehmend ‚freigesetzt’ werden, wird ebenso erwähnt wie Restriktionen gegen aufmüpfige Studierende am Beispiel der Hōsei. Judith Brandner hat in der Vergangenheit Murakami Haruki und Ōe Kenzaburo getroffen, den einen in Aoyama, den anderen in Wien. Beiden ist ein tiefer Einblick in die japanische Seele zu Eigen, der wenig Beruhigendes hat. Schließlich macht die Autorin noch darauf aufmerksam, dass die mit einem unverdächtigen doozo yoroshiku an einen herangetragenen Ersuchen keinesfalls gering geachtet und zurückgewiesen werden sollten. Auch dafür ist man ihr dankbar.



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