Ein Fall von Wohlstandsverwahrlosung?

Buchtitel: Gold Rush. Roman
Autorin: Yū Miri. Aus dem Japanischen von Kristina Iwata-Weickgenannt
Verlag, Erscheinungsjahr: be.bra verlag, 2010
ISBN 978-3-86124-911-5

Als ich vor Monaten angekündigt fand, es würde eines der literarischen Werke der zainichi sakkai Yū endlich in deutscher Übertragung erscheinen, war ich voll gespannter Erwartung. Yū Miri zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen japanischer Sprache der Gegenwart (Jg. 1968), wurde 1997 für Kazoku cinema mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichnet und 1999 mit dem Kiyama-Shōhei-Literaturpreis für Gōrudo rasshu.
Das Buch fängt in unaufgeregter Sprache das Derangement eines Vierzehnjährigen, Yuminaga Kazuki, ein, der, zerrissen zwischen Nicht-mehr-Kind- und Noch-nicht-erwachsen-Sein, sich aus den auf ihn einstürmenden Bedrängungen und Zumutungen allein durch den Mord an seinen Vater, einen Pachinko-Hallen-Tycoon, zu befreien wähnt, stattdessen aber immer tiefer in einen Alptraum aus Machtphantasien und Ohnmächtigkeit versinkt. Die Horrorversion eines bitzelnden Buben, der zwischen Empathie (die er etwa für seinen am Williams-Beuren-Syndrom laborierenden älteren Bruder empfindet), Parteinahme und völliger Gefühlskälte changiert. Bevor Vater Hidetomo unter den Hieben einer Schöpfung des Schwertschmieds Bizen Osafune Nagamitsu endet, entlädt sich einer der Gewaltausbrüche – „Sobald der Junge sich seiner Schwäche bewusst wurde, umgab er sich mit einer Mauer aus Zorn und Hass…“(S. 125) – über den Schoßhunden des Büros: Dobermänner werden unter einer impulsiven Golfschlägerattacke zu Brei.
Die auf der Rückseite des Schutzumschlags zitierte Verweisung auf Murakami und Bret Easton Ellis erscheint mir wenig naheliegend. Yū fabuliert oder fiktionalisiert weder auf eine Weise die an Murakami erinnert, noch kolportiert sie leger eine zynische Tristesse, wie es den Werken des US-Amerikaners eignet. Den aufgeworfenen Fragen nach des Lebens Sinnhaftigkeit, nach der Verständnisfähigkeit von Verrohung und wie ein junger Mensch dazu kommt sich in einer vorgegebenen Welt der Erwachsenen zu behaupten, werden von ihr weder plakative noch sonst welche, sich leicht erschließende Antworten beigegeben. Das Buch ist dezitiert keine Trost-Fibel und salbadert trotz der erwähnten Kulminationen nicht in der genüsslichen Beschreibung von Gewalt, wie es einem speziellen Teil der gängigen Kriminalliteratur zu eignen scheint.
Es gibt Bücher, deren Lektüre einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Yū Miris Gold Rush ist so eins. Ein ebenso unangenehmes wie notwendiges.
Großes Lob ist der Übersetzerin auszusprechen, die in ihren wissenschaftlichen Arbeiten ihre profunde Kenntnis der zeitgenössischen japanischen Literatur bereits vielfach unter Beweis gestellt hat. Sie attestierte der Autorin, dank ihrer autobiographischen ‚Inochi’-Reihe zur „bekanntesten alleinerziehenden Mutter Japans“ geworden zu sein (in: Asiatische Studien, LXI,2, 2007, S, 661).
Es steht zu wünschen, dass weiteren Übersetzungen von Yūs Werken ins Deutsche damit der Weg bereitet ist.



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