Down and Out in Tokio

Buchtitel: Tagelöhner und Obdachlose in Tōkyō
Autorin: Elke Hayashi-Mähner
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2005
ISBN 3-89129-181-7

Das ist natürlich in erster Linie ein Büchlein für einschlägig Vorbelastete. Für Sozialwissenschaftler und -innen, jedoch auch für solche Unbescholtene, die sich eine etwas komplexere Wahrnehmung der japanischen Gesellschaft erlauben und Japan nicht bloß als fröhliche Feier der Kirschblüten und der gesunden Ernährung phantasieren. Eine Schwarte wie Orwells vielfach gerühmtes “Down and Out in Paris and London”, umgelegt auf japanische Verhältnisse, ist mir bis dato in einer der mir lesbaren Sprachen nicht in die Hände gespielt worden. [Dass es auch in der japanischen Literatur den Blick von unten gibt – keine Frage! Aber es wird eben nicht alles, was es wert wäre oder es verspräche, auch übersetzt.]
Auf die Problematik der Obdachlosen erstmals aufmerksam wurde ich durch einen französischen Zeitungsartikel(1), später durch eine Arbeit von Wolfgang Herbert(2) und jüngst durch einen Bericht in der “Japan Times”(3). Vorliegende Studie wurde für die “Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens” mit Sitz in Tokio verfasst und berücksichtigt Entwicklungen bis ins Jahr 2004, kann also als eine Arbeit mit relativ hoher Aktualitätsrelevanz aufgefasst werden. Obwohl sich die Autorin beinahe ausschließlich auf veröffentlichtes, amtliches Datenmaterial stützt und keine qualitativen Interviews mit Betroffenen geführt (oder zumindest eingearbeitet) hat, reicht es als recht eindrückliches Abbild der Lebensverhältnisse von Tagelöhnern und Obdachlosen hin.
Unter dem Tagelöhnerdasein sind jeweils sehr knapp befristete Arbeitsverhältnisse zu verstehen, die es in Österreich offiziell nur bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs gegeben hat und später als informelle (nicht legitimierte) Arbeitsverhältnisse bloß auf dem so genannten Arbeiterstrich. [Asylwerbern bleibt in Österreich der Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt verwehrt. Viele drängt es daher in illegale Verhältnisse.] Allein größere Gemeinden (z. B. die Stadt Wien) stellen saisonal kurzfristig geringfügig Beschäftigte ein, etwa für den Winterdienst (Schneeräumung).
In Japan geht die Zahl der echten Tagelöhner (die vor allem im Baugewerbe Beschäftigung fanden) seit dem Ende der 1960er Jahre kontinuierlich zurück. Die Autorin beschreibt das traditionelle Viertel dieser Männer, das früher den Namen “Sanya” trug und heute mehrere Verwaltungseinheiten überlappt. Die in etlichen Aufständen durchgesetzten, legistischen Rahmenbedingungen (etwa Arbeitslosen- und eine Art Sozialversicherung) werden erläutert und deren Besonderheit im Hinblick auf das Fehlen analoger Bedingungen für andere Berufsgruppen aufgezeigt. Tatsächlich verheißt das allmähliche Verschwinden der Tagelöhner nämlich nicht, dass die von so genannten prekären Arbeitsverhältnissen betroffenen Menschen in Japan immer weniger werden würden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Klasse der working poor, also der Menschen, die trotz Arbeit bedrückenden Verhältnissen nicht entrinnen, wächst in Japan beständig. [Gleiches trifft freilich auch auf die USA und Europa, und damit die “Insel der Seligen” zu. Man denke in Österreich vor allem an den Schmäh mit den “neuen Selbständigen”!] Die so genannten furītā, Gelegenheitsarbeiter außerhalb des Tagelöhnerbereichs, zumal junge Leute mit hohen und ehemals realistischen Qualifikationen(4), werden immer mehr. Bei Verlust ihrer unsicheren Arbeitsverhältnisse stehen sie tatsächlich vor dem Nichts und laufen Gefahr in Obdachlosigkeit abzudriften. In Japan existiert das “Dilemma der unzureichenden Pflichtversicherungen”(S. 90) und es schickt sich an, zu einem massiven Problem zu werden, seitdem das “Dogma” der lebenslangen Anstellung keines mehr ist und Arbeiternehmer wie Arbeitnehmerinnen tatsächlich auch entlassen werden(5). Das ist mit ein Grund dafür, warum in den letzten Jahren auch die Zahl der obdachlos gewordenen Frauen wächst. [In absoluten Zahlen überwiegen natürlich noch bei weitem die Männer.] Japanweit sprechen offizielle Zahlen (vom März 2003) von 25 296 unterstandlosen Menschen (S. 91).
Den Arbeitsplatz zu verlieren ist nur eine Ursache von mehreren, deretwegen es einem nicht nur in Japan die Füße ausreißen kann. Eine weitere Möglichkeit ist die Schuldenfalle. “In den Schuldenstrudel geraten viele indes vollkommen unverschuldet.”(S. 84) Wie es sich ausnimmt, in Japan an Kredithaie zu geraten, schildert sehr eindringlich ein ganz aktueller Aufsatz(6).
Bis vor kurzem “siedelten” Obdachlose bevorzugt in öffentlichen Parkanlagen (wo es frei zugängliche Toiletten und Waschgelegenheiten gibt oder gab) und an den Ufern von Fließgewässern. Mit der Errichtung von Nächtigungsheimen speziell für diese soziale Randgruppe, sollte sie den Blicken der Bessergestellten entzogen werden. Die Autorin erörtert sozialrechtliche Regelungen zur Wiedereingliederung von Obdachlosen in den Arbeitsmarkt und bietet eine konzise Zusammenschau gesetzlicher Maßnahmen und der Problematik ihrer alltäglichen Umsetzung.
Die Auseinandersetzung mit den geschilderten Problemen in Japan hat natürlich den Sinn, einem die Errungenschaften des Sozialstaates in Erinnerung zu rufen, der allenthalben gegen die Auswirkungen des hegemonialen Liberalismus zu verteidigen ist. Von Strategien, gewissen Entwicklungen gegenzusteuern und die wechselseitige Verantwortung in einem sozialen Gefüge, das man den Staat nennt, das aber nichts anderes als die Summe seiner Bürger sein kann, bleibend zu implementieren, vermögen zivilisierte Staaten, die ihre Errungenschaften nicht preiszugeben bereit stehen, gerade auch im Wege des Erfahrungsaustausches profitieren.

(1) Pons, Philippe: Plongée au cÅ“r du Japon déchu, in: LE MONDE (16.03.2001), S. 17 [Ein Bericht über sozial Deklassierte in Kamagasaki.]
(2) Herbert, Wolfgang: Japan nach Sonnenuntergang. Unter Gangstern, Illegalen und Tagelöhnern. Berlin 2002 [Eine Besprechung findet sich auf dieser Web-Site.]
(3) Johnston, Eric: Homeless forced out of parks after stand off with Osaka cops, in: THE JAPAN TIMES, 31.01.2006 [Bericht über die Entfernung von Unterstandlosen und ihren Helfern aus dem Utsubo Park.]
(4) Vgl. dazu: Youth Employment in Japan’s Economic Recovery: ‘Freeters’ and ‘NEETs’ [Kosugi Reiko], auf: JAPAN FOCUS, 11.05.2006 (Posting date)
Ebenso: Pons, Philippe: La culture furita, ou le nomadisme au travail, in: LE MONDE (14.04.2001), S. 14 [Über Japans Zwanzigjährige und ihre “neuenâ€? Arbeitsbedingungen.]
(5) Vgl. dazu: Race to the Bottom? Japanese Multinational Firms and the Future of the Lifetime Employment System [Leonard Schopper], auf: JAPAN FOCUS, 21.02.2006 (Posting date)
Ebenso: Wither Japan’s Liftetime Employment System? [Hiroshi Ono], auf: JAPAN FOCUS, 26.04.2006 (Posting date)
(6) Schaede, Ulrike: Privatverschuldung und Sozialhilfe in Japan. Kredithaie, das “Mittelmarkt-Loch” und der japanische Sozialvertrag, in: ZfB, Special Issue “Herausforderung Asien”, 3/2006, S. 87 ff.
[Die sozialwissenschaftlich leicht fragwürdige Kategorie “Kredithai”(yami-kinyū) bezeichnet Instanzen haarscharf am Rande der Legalität (nicht selten mit ausgeprägter Verbindung zur Yakuza), die über ein geradezu brachiales Repertoire verfügen, säumige Schuldner das Gesicht verlieren zu lassen.]



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