Sich selbst erfinden

Buchtitel: Alles nur Theater? Gender und Ethnizität bei der japankoreanischen Autorin Yū Miri
Autorin: Kristina Iwata-Weickgenannt
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium 2008
ISBN 978-3-89129-827-5

Ein österreichischer Politiker, dem ich hier nicht die Ehre einer namentlichen Erwähnung angedeihen lasse, fühlte sich einst von Orchideenfächern bedrängt, die an den Hochschulen den vermeintlich gewichtigeren das Wasser abgrüben. Eine entbehrliche Polemik, vergleichbar den Ausfälligkeiten eines Wirtschaftstreibenden, die Universität Wien brauche sich keine zwölf Lehrstühle für Lamaismus zu leisten, die, nebenbei bemerkt, dort ohnehin nicht vorhanden sind.
Jemandem dem das Humboldtsche Bildungsideal noch etwas sagt, kann mit der Kategorisierung „Orchideenfach“ sowieso nichts anfangen. Natürlich ist auch die Japanologie kein Orchideenfach. Wenn sich mehr wissenschaftliche Arbeiten, wie die vorliegende, dank ihrer Lesbarkeit auch einem allgemeinen Publikum erschlössen, kann wohl niemandem daraus ein Schaden erwachsen.
Beim Lesen dieser leicht adaptierten Dissertationsschrift [Universität Trier] der Verfasserin, fühlte ich mich an Worte des unvergessenen Schweizer Strafrechtswissenschaftlers Peter Noll erinnert, dem das Lesen von eingereichten Dissertationen nicht immer als Vergnügen ankam [„Hundert Seiten und kein einziger, eigenständiger Gedanke!“]. Mir erging es hier anders. Ich habe, gleichwohl nicht vom Fach, die Arbeit von Frau Iwata-Weickgenannt mit wachsendem Interesse und ebenso wachsendem Gewinn gelesen, wie ich im Folgenden darlegen werde.

Mit Yū Miri wird einem nicht nur eine der erfolgreichsten japanischen oder japankoreanischen Autorinnen der Gegenwart vorgestellt [eine Übersetzung eines ihrer Werke ins Deutsche ist in Vorbereitung], sondern gleichsam die „bekannteste alleinerziehende Mutter Japans“[Iwata-Weickgenannt: Yû Miri und das „schöne Dorf“, Asiatische Studien LXI, 2, 2007, S. 661 ff.]. Wer sich also für zeitgenössische japanische Literatur erwärmen kann, wer etwas für die koreanische „Minderheit“ in Japan erübrigt, wer Entwicklungen in der japanischen Gesellschaft nicht als außerhalb seines Wahrnehmungshorizontes empfindet und sich für Aspekte künstlerischer Inszenierung und der Identitätskonstruktion generell interessiert, bekommt in den Ausführungen des Buches noch einige Anregungen und Nachdenklichkeiten dazugeliefert.
Tatsächlich gibt es die Autorin Yū Miri nicht nur als solche, die Bücher schreibt, in Interviews Rede und Antwort steht und E-Mails erwidert, sondern auch als gleichnamige Protagonistin in etlichen literarischen Texten (und seit geraumem im Internet) der Autorin Yū Miri. Wobei die literarisierte „Yū Miri“ nicht einfach ein inszenierter Charakter der Autorin Yū Miri ist, vergleichbar etwa den Rollen, in die die koreanisch-amerikanische Künstlerin Nikki S. Lee während einiger „Projekte“ schlüpfte. Tatsächlich scheint mir Yū Miri in ihrer Auseinandersetzung mit Identität und Identitätsfindung, Integration in eine ethnisch anders zusammengesetzte Gesellschaft als jene der Vorfahren, Sprachaneignung und Geschichte als unabgeschlossenem Prozess, den subtilen Arbeiten einer Theresa Hak Kyung Cha [koreanisch-amerikanische Künstlerin, 1982 ermordet] näher verwandt.
Was es bedeutet, aufgrund des Erfolges ihrer Bücher in Japan (und zunehmend auch in Südkorea) ein derart ausgesetzter und sich-aussetzender öffentlicher Mensch zu sein, lässt sich wohl kaum angemessen nachvollziehen. Die Handlungsräume der Selbstdarstellung deutschsprachiger Popliteraten nehmen sich dagegen vergleichsweise überschaubar aus. Iwata-Weickgenannt zeigt sehr anschaulich, wie im japanischen Literatur-Betrieb trotz (oder wegen) einer umfassenderen Durchdringung der Gesellschaft mit den Spielarten der neuen Medien „authentische“ Hintergrundinformationen zu den Autorinnen und Autoren lanciert, ja geradezu manisch nachgefragt werden und die „objektive“ Berichterstattung dem in schriftlicher (Zeitschriftenbeiträge) wie filmischer (Fernsehberichte, Talk-Shows) Form großzügig Rechnung trägt. (Die Chose würde sich wohl rasch zu Tode laufen, falls das Interesse der lesenden Öffentlichkeit tatsächlich erlahmte.)
Sollte jetzt vielleicht der Eindruck entstanden sein Yū Miri wäre für die Literatur das, was meinetwegen Hamasaki Ayumi für die Popmusik ist, eine ambitionierte Selbstdarstellungskünstlerin mit mehr oder weniger ausgeprägtem Talent in ihrer eigentlichen Profession, so könnte keine Schlussfolgerung falscher sein. Im zweiten Abschnitt ihrer Arbeit analysiert Kristina Iwata-Weickgenannt ausgewählte Werke der Autorin Yū Miri, die innerhalb eines Zeitraums von elf Jahren veröffentlicht wurden. Genaue Inhaltsangaben und signifikante Textauszüge (in der Übersetzung der Verfasserin) veranschaulichen, dass das keine Trivialliteratur ist. Als umso bedauerlicher mag man es auffassen, dass die Romane, die die Themen Heimat/Heimatlosigkeit, prekäre Familienkonstellationen, Alleinerzieherin und Vergangenheit der Vorfahren aufgreifen, einer Übersetzung ins Deutsche noch harren.
Yū Miri wurde 1968 als Japankoreanerin der zweiten Generation geboren, begann nach glücklosen Schulbesuchen eine Schauspielausbildung und Essays sowie Theaterstücke (in japanischer Sprache) zu schreiben, später Romane, 2007 sogar ein Kinderbuch.
Yū Miri wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet und zählt mit der früh verstorbenen Yi Yang-ji zu den bedeutendsten japankoreanischen Autorinnen.
Im umfangreichen ersten Teil ihrer Arbeit betreibt Kristina Iwata-Weickgenannt eine historische und sozialwissenschaftliche Kontextualisierung der Situation der koreanischen „Minderheit“ in Japan und erläutert Besonderheiten literarischer Genres und ihrer Rezeption. So hat etwa die Tagebuchliteratur in Japan einen anderen Stellenwert als bei uns.
Die Widersprüche in der Transformation der japanischen Gesellschaft von der Meiji-Zeit bis in die Gegenwart finden die in diesem Rahmen vertretbare angemessene Beachtung. Dabei bieten die zahlreichen Verweise eine Fülle von Anregungen, einzelnen Aspekten weiter nachzugehen. Einmal mehr finde ich die geradezu deprimierenden Einschätzungen von Imai Yasuko, das Geschlechter-Verhältnis in Japan vor der Restauration betreffend, bestätigt.
Die angeführte sozialwissenschaftliche Literatur zu Identitätskonstruktion, Rollentheorie und der Genese von Traditionen ist deutlich am Stand der Dinge orientiert. Dass die Verfasserin auch auf Lacan rekurriert, finde ich großartig, lässt man dessen Arbeiten im deutschsprachigen Raum ja nach wie vor zu gerne links liegen.
Fazit: Kristina Iwata-Weickgenannt ist für ihre Arbeit uneingeschränkt Anerkennung zu zollen. Ich verstehe sie auch als eine Anregung, Bücher der japankoreanischen Autorin Yū Miri ins Deutsche zu übertragen.



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