Ein Umwelt-Skandal und seine Bewältigung

Buchtitel: Der Fall Minamata. Bürgerrechte und Obrigkeit in Japan nach 1945
Autorin: Anja Osiander
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2007
ISBN 978-3-89129-852-7

Die Quecksilberverseuchung der Bucht von Minamata, bzw. der Shiranui See, zählt zu den großen Umweltkatastrophen des 20. Jahrhunderts (wie etwa die Reaktorhavarie auf Three Mile Island, Pennsylvania, die Skandalgeschichte von Sellafield, Großbritannien, die Dioxin-Verseuchung von Seveso, Italien, der Super-Gau von Tschernobyl, Sowjetunion …). Endgültig bewältigt scheinen die Folgen der fahrlässigen Handlungen bis heute nicht (vgl.: The Japan Times vom 12.10.2007: „Unrecognized Minamata victims sue for redress“).
Im vorliegenden Buch, ihrer leicht überarbeiteten Dissertation, geht es der Verfasserin weniger um eine minutiöse Nachzeichnung der Leidenswege der von der Verseuchung unmittelbar Betroffenen und ihrer Angehörigen [zu diesem Thema empfiehlt sich die deutsche Übersetzung des Buches „Paradies im Meer der Qualen. Unsere Minamata-Krankheit“ von Ishimure Michiko], als um eine Untersuchung des Zustands der japanischen Zivilgesellschaft. Vor dem Hintergrund der Ereignisse wird das Verhalten der Behörden, der Firmenverantwortlichen und der Geschädigten besonders im Hinblick auf die durch die japanische Verfassung jedem einzelnen Staatsbürger verbrieften Garantien untersucht. Genau dieser Aspekt ist es, der die Lektüre für den an vergleichender Politikwissenschaft Interessierten spannend, gleichsam aber auch beklemmend macht, zumal wenn man der Autorin ihrem wenig optimistischen Resümee beizupflichten geneigt ist. Die Frage ist nämlich die, ob das obrigkeitsstaatliche Denken und Handeln durch die Implementierung der Verfassung durch die US-amerikanische Siegermacht am Ausgang des Zweiten Weltkriegs, allmählich der Vergangenheit angehört oder gerade durch die spezifischen, japanischen Befindlichkeiten weiterhin tradiert wird. Dabei sei aber keineswegs der hanebüchenen Ideologie vom geradezu monolithischen Wesen der japanischen Gesellschaft das Wort geredet, die nicht nur von der extremen politischen Rechten für ihre Zwecke, die als eine Form von Gehirnwäsche anmutet, bemüht wird. Dass alle Japanerinnen und Japaner in selbst verleugnender Duldsamkeit alle Zumutungen der Obrigkeit hinnehmen ist nämlich zu keiner Zeit der turbulenten japanischen Geschichte wahr gewesen! Vielleicht würde es auch eine Beförderung der Zivilgesellschaft bedeuten, wenn in den Schulen aufgezeigt würde, dass sich die Menschen auch zur Wehr zu setzen verstanden. Wie die gegenwärtige Schulbuchdebatte über die Ereignisse der letzten Kriegsmonate auf Okinawa belegt, in der es um die Tilgung einer historischen Wahrheit geht, nämlich der durch japanische Militärs erzwungenen Selbstmorde von Zivilpersonen, werden Taktlosigkeiten und mangelndes Feingefühl der zentralen Behörde von nachrangigen Stellen nicht mehr nur widerspruchslos hingenommen.
Anja Osiander geht den verordneten Umbrüchen und den mehr oder weniger unterschwellig weiter wirkenden Kontinuitäten [„Von den Berufsverboten durch die US-amerikanische Besatzungsverwaltung waren Richter nicht betroffen.“ (S. 198)] im Verwaltungsapparat Japans nach 1945 anhand der Forschungsliteratur nach. „Die ersten Jahrzehnte der japanischen Nachkriegsdemokratie waren geprägt von einem Stil des Regierens am Parlament vorbei.“(S. 181)
Das besondere Krisen-Management im Fall der Verseuchung der Bucht von Minamata durch eine dort ansässige Chemiefabrik wird durch die Darstellung der Autorin in ihrer Verworrenheit nachvollziehbar, die Verantwortungslosigkeit der Betreiber trifft sich mit den Unzuständigkeiten oder Rivalitäten der Ministerien, und erst durch die Hartnäckigkeit einiger Betroffener, wie Kawamoto Teruo, und liberal eingestellter Politiker, wie Ōishi, Miki und Murayama, vermag sich ein grundlegender Wandel einzustellen.
Osianders Fazit ihrer Untersuchung stimmt dann sehr nachdenklich: „ Ein Wandel in den japanischen Regierungsstellen hin zum Ideal des liberalen Staates zeichnet sich nicht ab, weder in naher noch in weiter entfernter Zukunft.“(S. 353)
Man möchte sich zurücklehnen und in der beruhigenden Vorstellung ergehen: Japan ist ja so weit … Aber dann hört man von der Verseuchung der Rhône …



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