Die Politik des japanischen Premiers Abe

Buchtitel: Japan in der Ära Abe. Eine politikwissenschaftliche Analyse
Herausgeber: Steffen Heinrich und Gabriele Vogt
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2017
ISBN 978-3-86205-048-2

Wer als Spitzenpolitiker einmal von der Bildfläche verschwindet, findet sich für gewöhnlich auch in Japan dauerhaft im politischen Ausgedinge wieder. Sich als die Ausnahme von der Regel zu etablieren, mag da durchaus respektabel erscheinen. Stehaufmännchen sind selbst unter Japans Politik-Dynasten eine dünn gesäte Spezies. Dass Premier Abe eine zweite, ja dritte Amtsperiode gegönnt ist, rechtfertigt eine Analyse seines politischen Handelns. Kocht der Mann, der seinen Landsleuten das Blaue vom Himmel verspricht – oder zumindest Japan zurückzuholen (an den vordersten Platz unter den Nationen) – auch nur mit Wasser oder macht den Glanz seines Wirkens der Schatten „der Schwäche der Opposition“, wie die Herausgeber in ihrem einleitenden Beitrag einen Artikel der Tageszeitung Asahi resümieren? Dass sich die Beteiligung junger Wählerinnen und Wähler an der politischen Willensbildung seit den 1960er Jahren in kontinuierlichem Sinkflug befindet und 2014 unter den 20-29jährigen nur noch 33% betrug, offenbart eine bedenkliche Entwicklung. Das politische Tagesgeschäft als Klientel-Pflege anzugehen, ist nach Meinung von Kommentatoren indes obsolet geworden, gleichwohl die Konstellation des „eisernen Dreiecks“ nach wie vor seinen Einfluss geltend zu machen versteht. Es scheint allerdings darauf anzukommen, welche Interessengruppen die Schenkel des Dreiecks bilden. In der Untersuchung von Christine Burgschweiger-Rieck über die Reform des Landwirtschaftssektors im Rahmen der „Abenomics“ werden einschneidende Kurskorrekturen in den Blick genommen, die einen der ineffizientesten Subventionssparten betreffen. Nicht nur, dass japanische Konsumenten „durchschnittlich fast das Doppelte des Weltmarktpreises für Lebensmittel“(S. 100) zu berappen haben, ist die Lebensmittelversorgungsrate in Japan „mit 39 Prozent einer der niedrigsten unter den Industrienationen“(S. 103) überhaupt. Welche Auswirkungen indes die Versenkung des Freihandelsabkommens TTP durch die neue US-amerikanische Administration auf die diesbezüglichen Abe’schen Ambitionen zeitigen, muss sich weisen.
Raymond Yamamoto widmet sich den sicherheitspolitischen Agenden unter Abe, dessen Liebäugeln mit einer Verfassungsänderung inzwischen als notorisch betrachtet werden kann. Eine Neubeauftragung der japanischen Selbstverteidigungskräfte würde Japan in die Reihe der „normalen Nationen“ zurückführen, wenn die Bündnispolitik unter Oberhoheit der USA die Norm stellt. Die verschlechterte Sicherheitslage wird auch von der Mehrheit der Bevölkerung so wahrgenommen, die erfreulicher Weise nicht jede darauf sich berufende Reform widerspruchslos goutiert. Ein Gesetzespaket, das unter anderem die sogenannte „kollektive Selbstverteidigung“ legitimiert, konnte im September 2015 erst nach einem Handgemenge unter Abgeordneten des Oberhauses verabschiedet werden und „löste die größten zivilgesellschaftlichen Demonstrationen seit den 1960er Jahren in Japan aus“(S. 31).
Franziska Schultz befasst sich mit Abes Chinapolitik. Bilaterale Befindlichkeiten vermögen wechselseitiges Befremden zu überspielen, wo dem Pragmatismus der Vorzug gelassen wird. Der Vorwurf, Geschichte zu klittern und sich der historischen Verantwortung nicht zu stellen, von China regelmäßig an Japan adressiert, wenn dort ein Großkopferter sein Haupt am Yasukuni-Schrein beugt, der Disput um die Senkakus neu aufflammt oder Lehrbücher bedenkliche Behauptungen kolportieren, ließe sich mit jenem Matthäus-Zitat, wonach der Splitter im Auge des Bruders gesehen, nicht jedoch der Balken im eigenen Auge wahrgenommen wird, retournieren, böte sich nicht ebenso Zutreffendes aus der chinesischen Literatur an. Dass die Beziehungen zwischen China und Japan nicht gerade von Harmonie getragen sind, scheint der wirtschaftlichen Verflechtung der beiden Nationen auch unter Abe keinen Abbruch zu tun.
Gabriele Vogt beschäftigt sich mit Zuwanderung als Instrument der Entwicklungs- und Handelspolitik. Einen Kurs einzuschlagen, der sowohl der Bevölkerungsentwicklung (Überalterung und Schrumpfung) Rechnung tragen würde, als auch den Erfordernissen der Produktionswirtschaft sich anpasste, ist nicht absehbar. Die Zuwandererbevölkerung rekrutiert sich, aller deklarierten Absicht zum Trotz, nur zu einem Fünftel aus Hochqualifizierten.
Steffen Heinrich bilanziert Abes Arbeitsmarktpolitik ernüchternd: die soziale Ungleichheit wächst. Dass die Wählergunst seines Kabinetts trotzdem nicht einbricht, gleichwohl die Arbeitsmarktpolitik ein Kernanliegen der Bevölkerung bildet, stellt sich als japanisches Paradoxon dar.
Phoebe Stella Holdgrün entlarvt Abes Programm der Frauenförderung, das unter der Wortgirlande „Gesellschaft brillierender Frauen“ firmiert, als Papiertiger und Felix Lills Sicht auf die japanische Medienlandschaft lässt ebenso wenig einen Silberstreif erkennen. Die Usance der „Schreiberklubs“, die den Zugang zu den offiziellen Informationsquellen reglementiert, ist nach wie vor nicht aus der Welt. Der Autor konstatiert eine wachsende Selbstkontrolle unter Journalisten und beim ominösen „Staatsgeheimnisgesetz“, das Ende 2014 in Kraft trat, schwant einem so manches. Jüngst bestätigt auch durch die Verabschiedung eines Gesetzes gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus, das Kritiker als „ungebührliche Einschränkungen des Rechts auf Privatsphäre und die freie Rede“ monieren, wie Patrick Welter in der Neuen Zürcher [NZZ (138), 17.6.2017] berichtete.
Diese hier erwähnten und noch andere Beiträge, die im Rahmen des 16. Deutschsprachigen Japanologentags im August 2015 vorgetragen worden sind, ergeben einen interessanten Querschnitt der Einschätzung der vorläufigen Amtszeit Abes durch Experten und Expertinnen ihres Fachs. Sie können auch als Verständnishilfen des gegenwärtigen Japan gelesen werden.



Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.