Aktuelle japanische Literatur

Hefttitel: Japan
Zeitschrift: Neue Rundschau 123. Jg., 2012, Heft 1
Verlag: S. Fischer
ISBN 978-3-10-809088-3

Die Neue Rundschau ist unter den deutschsprachigen Literaturzeitschriften der renommierten eine. Müßig, sich hier des Weiteren darüber zu verbreiten. Die Beiträge des vorliegenden Heftes wurden in Zusammenarbeit mit der japanischen Literaturzeitschrift Gunzō gewonnnen. Anlass dürfte das Schicksalsjahr 2011 gewesen sein. Einige der versammelten Autorinnen und Autoren nehmen Bezug auf die Ereignisse um das Große Ostjapanische Beben. Der Redakteur Saegusa Ryōsuke etwa schildert seinen Besuch im vom Tsunami verwüsteten Landstrich: „Es gab Städte, in denen alles total zerstört war und man sich nicht einmal mehr vorzustellen vermochte, wie sie einmal ausgesehen hatten.“[S. 8, Übers.: Heike Patzschke].
Charmant und verstörend gleichermaßen – die beiden Versionen der Kurzgeschichte „Der Bärengott“(S. 20 ff.) von Kawakami Hiromi.
Abe Kazushige, „Ride on Time“(S. 44 ff.), erzählt vom Wellenreiten, oder besser: einer Sucht, aus der Wirklichkeit zu flüchten, indem ein katastrophaler Moment überhöht wird – anderen im Gedächtnis bleiben, erzeugt Sinn.
Seltsam: Die Erzählung von Shibasaki Tomoka, „Hier, hier“(S. 50 ff.). Es wird nämlich, abgesehen von reichlich trivialem Alltagsgeschehen überhaupt nichts erzählt. Oder sollte auf besonders subtile, tatsächlich völlig unauffällige Weise auf das Hanshin-Erdbeben verwiesen werden?
Beklemmend: „Ist der Himmel für Ziegen blau?“(S. 70 ff.) von Kirino Natsuo. In ihrer fiktionalen Geschichte schildert sie das entwürdigende Leben von Gefangenen in einem Straflager. Man fühlt sich an die Wahrnehmungen von Warlam Schalamow oder Soon Ok-Lee erinnert.
Die Photographin Nagashima Yurie gedenkt in einer berührenden Betrachtung in „Erinnerungen an einen Rücken“(S. 85 ff.) ihrer Großmutter, ausgelöst durch den Anblick des wohl berühmtesten Bildes des US-amerikanischen Malers Andrew Wyeth.
Isaka Kōtarō verknüpft in seiner launigen Geschichte „Die mobile Bibliothek“(S. 103 ff.) die Schicksalsfäden zweier freiwilliger Helfer im Erdbebengebiet, die einander, und nicht nur einander, so manches zu verbergen haben. Durch Elementarereignisse gehen Dinge nicht nur verloren, sie treten mitunter dadurch erst zutage.
Der Dramatiker Okada Toshiki schildert in „Ein Problem wird gelöst“(S. 128 ff.) wie die Ereignisse von Fukushima dem Alltag eines Paares, das Tokio den Rücken kehrt, auf subtile Weise zusetzt. [Einige Passagen erinnern ein wenig an Takayama Akira und seinen „Versuch einer theatralischen Architektur“ in Auseinandersetzung mit der Reaktor-Havarie.]
Schließlich ist Ōe Kenzaburo mit der Übersetzung eines Vortrags vertreten (S. 141 ff.), den er Juni 2011 in Mito hielt.
Alles in allem: Eine sehr ansprechende Anthologie.



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