Weltstadt Tokio

Buchtitel: Ungleichheit in der global city Tōkyō. Aktuelle sozialräumliche Entwicklungen im Spannungsfeld von Globalisierung und lokalen Sonderbedingungen
Autor: Ralph Lützeler
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2008
ISBN 978- 3-89129-853-4

Was ist Tokio überhaupt? Etwas süffisant ließe sich sagen: eine Agglomeration; eine zusammengeballte, ineinandergewachsene Riesenhaftigkeit. „Eine Stadt Tōkyō im administrativen Sinne gibt es seit 1943 nicht mehr.“(S. 65, Anmerkung 18) Dem Gouverneur der Präfektur Tokio obliegt denn auch die Agenda, die andernorts einem Bürgermeister zukommt, was wohl dazu beiträgt ihn außerhalb Japans gleich auch als solchen zu titulieren.
Nun hängt sich der Autor des vorliegenden Buches freilich nicht an derartigen Verwaltungsgepflogenheiten auf, vielmehr konzentriert er sein Augenmerk auf soziökonomische Entwicklungen in Japans Kapitale im Vergleich zu anderen Weltstädten. Dabei rekurriert er, in behutsamer Erweiterung, auf den Begriff der „global city“ von Saskia Sassen. Die Fülle an statistischem Material, die Summe vom Autor vor Ort erhobener Daten, sowie die in das Planbild Tokios eingetragenen Details sind beeindruckend. Das Buch ist denn auch die leicht überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift des Verfassers.
Der „unwissenschaftliche[n] Vorstellung eines einzigartigen Japan“(S. 390) wird hier ganz und gar nicht zugearbeitet und dem Mythos der weitestgehenden Homogenität der japanischen Gesellschaft anhand der Belege die Grundlage entzogen. Dennoch fällt die soziale Segregation in New York oder London bedeutend gravierender aus, was zum einen auf einen deutlich höheren Anteil an Minderheiten und Immigranten gründet, andererseits auf einen relativ ungehemmten Neoliberalismus, der sich auch in einer stärkeren Ausdifferenzierung von Einkommensunterschieden spiegelt. Ein Yuppie-Phänomen konnte sich auch zu den Hochzeiten der so genannten bubble-economy in Tokio nicht ausbilden, zu stark ist hier ein Entlohnungssystem auf der Basis von Firmenzugehörigkeitsdauer und Lebensalter verankert. Wenngleich Japan auch kein ostasiatischer Verwandter europäischer Wohlfahrtsstaaten ist, ein staatliches Unterstützungssystem ist dennoch erkennbarer angelegt als in den USA. Nach Einschätzung des Autors betreibt es auch die Politik in Japan eine ungehemmte Entfaltung rein ökonomischer Interessen nicht ins Kraut schießen zu lassen. Somit lässt sich von einem Rückzug des Staates von Regulierungsmaßnahmen und der Verfolgung gewisser Rahmenbedingungen nicht sprechen.
„Tōkyō ist eine vergleichsweise junge Stadt.“(S. 154) Die relevante Historie setzt erst im 15. Jahrhundert ein. Die nach dem restriktiven Gesellschaftsbild der Tokugawa-Shogune erfolgte strenge Trennung der sozialen Klassen spiegelte sich auch in der Anlage des Stadtbildes wieder. Das wiederum durch zwei einschneidende Ereignisse, nämlich den „großen Brand des Jahres 1657“(S. 156), sowie das Kantō-Erdbeben 1923, bzw. durch die dadurch ausgelöste Feuersbrunst, eine wesentliche Neugestaltung erfuhr.
Im Gegensatz zu anderen Weltstädten ist der Ausländeranteil in Tokio minimal, der von Asylanten, aufgrund der rigiden Gesetzeslage, geradezu verschwindend.
Zur „Stammbelegschaft“ unter den Ausländern zählten traditionell die Koreaner. Als größte Gruppe wurden sie zwischenzeitlich von den Chinesen abgelöst. Eine „hohe räumliche Konzentration der asiatischstämmigen Neubürger von Tōkyō“(S. 393) lässt sich beobachten. Doch gilt, dass der überwiegende Teil der Residenten anderer Staatsangehörigkeit hoch qualifiziert und auch entsprechend ökonomisch abgesichert ist (Ausnahme: die im „Unterhaltungsgewerbe“ tätigen, vorwiegend weiblichen Zuzügler). Von einer Ghetto-Bildung dieser Gruppen kann nicht die Rede sein.
Die gemäß ihres Einkommens, neben den Obdachlosen, am schlechtesten Gestellten, die Tagelöhner, finden sich vor allem im Tagelöhnerviertel San’ya. Tokio verfügt zwar „über inselhaft in der Stadt verteilte hoch benachteiligte Distrikte“(S. 394 f.). „Eine große, räumlich zusammenhängende ‚Mieterstadt’ als Wohnort der durch die oberen Klassen ausgebeuteten unteren Angestellten und Arbeiter existiert jedoch nicht.“(S. 395) Daher stellt Segregation in Tokio bislang „ein oft nur statistisch erfassbares Phänomen dar, weit außerhalb des Bewusstseins der meisten Einwohner.“(S. 397)
Ob das so bleiben wird, wird die Zukunft weisen. Der Autor schließt, dass Japan aufgrund seiner demographischen Entwicklung möglicherweise auf einen stärkeren Zuzug ausländischer Arbeitskräfte angewiesen sein wird.
Das Buch sei Stadtsoziologen und allen an Tokio Interessierten ans Herz gelegt.



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