Wie das moderne Japan wurde

Buchtitel: Japan Story. In Search of a Nation. 1850 to Present
Autor: Christopher Harding
Verlag, Erscheinungsjahr: Penguin 2019
ISBN 978-0-141-98537-4

Eine Wahrheit, nach einem gängigen Diktum, lautet, dass die Vergangenheit nicht einmal vergangen ist. So gesehen kann es nie das eine Kompendium geben, das die Beschäftigung mit der Geschichte genug sein ließe und abschlösse, was zu einem Abschluss doch nicht finden kann. Christopher Hardings Buch über Japans Entwicklung seit der initialen Disruption durch die kurofune, ist nicht nur ein weiteres zum Thema, sondern ein besonders lesenswertes, kurzweilig im Erzählgang, schweift es selbst im Fokus auf manches Detail nicht vom Impetus der Befassung ab, nämlich zu erhellen wie eine (relativ) homogene Ethnie ihren Weg findet Nation zu werden, in der Dämmerung der Chauvinismen und der kollidierenden Hegemonien. Einmal zur Offenheit gegenüber der Welt genötigt, tritt die Welt nicht nur ein, sondern tritt Japan in die Welt hinaus, was an Ambivalenzen so manches Beargwöhnte bei Gebenden wie Nehmenden gleichermaßen evoziert. Sich eine andere Zeit zu erzwingen als die Gegenwart, die man doch nicht fliehen kann als Lebende, muss scheitern. Dieses Scheitern ist in Japan besonders teuer erkauft, auch zu Lasten heimgesuchter Völker. Inwieweit die Erkenntnis hierüber in breiteren Bevölkerungsschichten je verfangen hat als in Avantgarden, die sich mitunter gar nicht als solche gerierten, bleibt eine Frage von Aktualität, wenn man die Debatte um den designierten neuen japanischen Premier Fumio Kishida dieser Tage (Oktober 2021) verfolgt.
Der Historiker Joachim Radkau drückte den Jahrzehnten zwischen dem Ende des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts den Stempel „Zeitalter der Nervosität“ auf. Tatsächlich gewinnt auch in Japan in diesen Dezennien das neurasthenische Phänomen shinkei suijaku zunehmend an Evidenz. Als Effekt eines Wandels, der alles durcheinanderwirbelt? Von den Gewohnheiten sich zu kleiden, sein Tagwerk zu verrichten, das Essen zu bereiten, der Teilhabe an Diskursen, die durch ein subtiles Regelwerk an Exklusion bislang als de facto inexistent galten: den Formen des öffentlichen Lebens, bis zu einer Neudefinition der Geschlechterverhältnisse, die Pionierinnen wie Kageyama Hideko, Hiratsuka Haruko oder Shimizu Shikin einklagten. Von der Kühnheit, das Frauenwahlrecht zu fordern, da die Mitglieder der Hohen Häuser lediglich die Repräsentanz eines Fünftels der Bevölkerung spiegelten, ganz zu schweigen.
Akte der Selbstermächtigung lokaler Bevölkerungsgruppen, die nicht mehr die Konfrontation mit einem totalitären Sicherheitsapparat zu gewärtigen haben, stattdessen aber die Manipulation der öffentlichen Meinung durch mimaikin, gelingen in den Nachkriegsjahren vor allem im Widerstand gegen eine umweltschädigende, hochtoxische Industrie. Schließlich mausert sich Japan zu einem Vorzeigeland in Sachen Abfallwirtschaft, das sich gleichzeitig das Paradoxon leistet, das am tüchtigsten zubetonierte Land der Welt zu sein, sinnlose Straßenprojekte in die Pampa treibend, die Kanalisierung von Flüssen, sowie die „Behübschung“ von Küstenstreifen mit Halden aus Tetrapoden forcierend.
Japanischer Erfindungsgeist hat das Transistorradio in die Welt gesetzt und die sprechende Toilette. Aficionados oder Opfer der Unterhaltungsindustrie wurden mit Segnungen bereichert, die diese subtiler an ein Treueverhältnis binden, als es die Machinationen von Untergangspropheten und Esoterikapostel je vermochten. Der otaku muss nicht mehr zwingend ein Japaner sein.



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