Der Heilige, Kôbô Daishi
Eine Erzählung von Frau Rotraut Saeki
Der Heilige, Kôbô Daishi, (Kûkai 774 – 835) wohnt bis auf den heutigen Tag in den Herzen der Japaner fort. Es ist womöglich die allerbekannteste und allerbeliebteste geschichtliche Persönlichkeit. Er ist zu einem Wundermann geworden, und manche Erzählungen über ihn erinnern an die von Christus oder von großen christlichen Heiligen. Sehr viele Legenden und Sagen ranken sich um ihn, und nachstehend ist eine, die die vom Ursprung der Pilgerwanderung erzählt und allgemein bekannt ist, wiedergegeben.
Der Beginn der Henropilger oder die Geschichte von Emon Saburô
Vor ungefähr 1100 Jahren lebte im Lande Iyo in der Ortschaft Ebara (Ehime-ken, Matsuyama-shi) auf der Insel Shikoku der Edelmann Emon Saburô. Er war ein entfernter Verwandter der Familie der Kôno, die sich damals Iyo untertan gemacht hatte, und er war über den Feldbesitz und die Bauersleute der herrschenden Familie gesetzt. Unter den Herren, die das Landvolk kontrollierten und ihrer Willkür unterwarfen, waren viele grausam und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Sie quälten die Menschen bis aufs Blut und kannten kein Erbarmen. Emon Saburô war einer dieser Blutsauger, und er war besonders schlimm. Jedes Jahr nahm er den Bauern ab soviel er nur konnte, er füllte sich selber die Taschen, und das Elend der armen Bauern bereitete ihm nicht einmal eine schlaflose Nacht. Überall haßte und fürchtete man ihn. Wenn er zufällig auf der Straße zu sehen war, lief diese Nachricht schnell von Mund zu Mund, und die Leute versteckten sich. Sogar die Kinder nahmen Reißaus.
Emon Saburô war das egal, und er dachte überhaupt nicht daran, sich auch nur ein wenig zu bessern. Er lachte sich ins Fäustchen, wenn er den Reis, den er den Bauern abgenommen hatte, in seiner Scheune sah, und wenn irgend jemand es wagte, ihm in die Quere zu kommen oder ihn gar ermahnen zu wollen, schickte er seine Leute zu ihm und ließ ihn verprügeln.
Eines Tages kam ein Wandermönch durch den Ort Ebara. Er betete vor allen Häusern und kam nach und nach auch bis zu Saburô’s Anwesen. Wie überall betete er auch hier und streckte seine eiserne Bettelschale aus, um die üblichen Almosen zu empfangen. Der Mönch trug ein abgerissenes Gewand, das seine lange Wanderschaft bezeugte. Man sah aber auf den ersten Blick seiner edlen Gestalt an, daß er kein gewöhnlicher Priester war, sein strahlender Blick zog die Menschen in seinen Bann. Und jeder, der den Mönch erblickte und hörte, gab ihm gerne nach seinem Vermögen und füllte ihm die Almosenschale.
Nicht so der verdorbene Emon Saburô. Er plärrte heftig: “Verschwinde von hier, aber sofort, wir brauchen keine Bettler, du fauler Kerl du!” Der Mönch war sichtlich erstaunt über den unfreundlichen Empfang, er sagte jedoch kein Wort, sondern blickte den tobenden Hausherrn fest an und ging gelassenen Schrittes weiter. Was er wohl gedacht hatte?
Am kommenden Tag erschien der Mönch wieder vor Saburô’s Tor und begann zu beten. Die Antwort war die gleiche wie gestern: “Verschwinde, geh weg!” Der Hausherr brüllte gehässig, und sein Gesicht lief rot an. Der Mönch schwieg, drehte sich um und ging still weiter. Am nächsten Tag und auch am übernächsten stand er vor dem reichen Anwesen und wurde jedesmal verjagt. Am 8. Tag endlich geschah es. Emon Saburô verlor vollends die Beherrschung und brüllte: “Bettelkerl, wie oft willst du denn noch kommen? Ich werde dir zeigen, was man mit so einer Pest wie dir macht!” Er ergriff einen Stock, der am Gartentor lehnte und wollte ihn dem Wanderpriester auf den Kopf schlagen. Bevor jedoch der Schlag niedersaußen konnte, hob der Mönch schnell seine eiserne Almosenschale hoch und fing den Hieb damit auf. Mit hellem Klang zerbrach die Schale in acht Teile, und als man meinte, sie fielen nun auf die Erde, strahlten sie auf einmal ein blendendes Licht aus und erhoben sich in die Luft. Und im gleichen Augenblick war der Mönch spurlos verschwunden.
Emon Saburô fühlte ein seltsames Kribbeln in den Händen, mit denen er den Stock geführt hatte, aber seine Frechheit verließ ihn auch jetzt nicht: “Was soll’s, ist der Kerl vielleicht ein Zauberer? Dann zog er sich, als ob nie etwas gewesen sei, in sein Haus zurück.
Saburô hatte acht Kinder, fünf Buben und drei Mädchen. Sie waren sein allergrößtes Gut auf dieser Welt, und wenn es um seine Kinder ging, konnte sogar der harte Mann weich werden.
Einen Tag nach dem Zwischenfall mit dem seltsamen Wandermönch wurde der älteste Sohn krank und mußte sich zu Bett legen. Das Kind wand sich in den Krallen einer Krankheit, die niemand kannte und zu lindern vermochte, und bevor es Abend wurde, lag der Junge tot auf seinem Lager. Am nächten Tag fiel die unheimliche Krankheit das nächste Kind an und brachte es um. Es gab keine Hilfe, keine Arznei wollte anschlagen. Am dritten Tag begann das Siechtum des dritten Kindes, keinerlei Vorsorge half, am vierten Tag erlag das nächste Kind der Krankheit, und nach acht Tagen, nach schrecklichen acht Tagen, ruhten alle acht Kinder auf dem Friedhof. In kurzer Zeit hatte Emon Saburô seinen größten Reichtum eingebüßt.
Das war für den harten Mann zuviel, und er ergab sich der Verzweiflung: “Alle meine Kinder sind von mir gegangen, oh, warum nur, warum nur? Welche Strafe des Himmels sucht mich heim?” Fassungslos konnte er nur immer wieder diese Worte wiederholen.
In seinem größten Leid trat ihm auf einmal der Wandermönch vor das innere Auge, und er mußte an die zerschlagene Almosenschale denken: “Ah, das ist die Strafe dafür, daß ich die Schale zertrümmert habe. Und der Priester ist auch damals spurlos und auf wunderbare Weise verschwunden!” Emon Saburô mußte, ob er wollte oder nicht, an alle seine bösen Taten, an seinen frechen Stolz und seinen Hochmut denken. Seine ganze schreckliche Vergangenheit zog an ihm vorüber. Und er fing an, sich vor sich selber zu fürchten.
Gerade eben zur gleichen Zeit war auf der Insel Shikoku die Rede von einem ungewöhnlichen Priester in aller Munde. Irgendwer sagte: “Das ist ein sehr tugendhafter Wandermönch, er geht um und lehrt das “Wahre Wort”, das Shingon. Ein anderer setzte hinzu: “Shingon sagst du? Dann kann es nur der würdige Kûkai sein, der aus China zurückgekehrt ist und nun durch unsere Insel reist. Er soll aus Shikoku stammen.” Die Kunde von Kûkai verbreitete sich wie ein Lauffeuer, sie ging von Dorf zu Dorf und erreichte endlich auch Ebara im Lande Iyo.
In diesen Tagen war Emon Saburô in tiefstem Leid um seine Kinder. Auch er hörte, was die Dorfleute redeten und dachte: “Dann war es also der große Kûkai, der meinen frechen Übermut gezüchtigt hat. Ich muß zu ihm gehen, seine Lehren hören und Vergebung für meine aufgehäuften Sünden erlangen. Und ich will ihn bitten, für meine armen Kinder, die anstatt des bösen Vaters dahingerafft wurden, zu beten. Seine Gebete haben die Kraft, ihnen zu einem besseren Leben in ihrer nächsten Existenz zu verhelfen.
Saburô war mit einem Male wie verwandelt, und er beschloß, all sein Hab und Gut an die in Armut lebenden Bauern zu verteilen. Jeder der ihn sah, wußte nicht, ob er sich freuen oder zweifeln solle.
Der wie neugeborene Mann verlor keine Zeit, er kleidete sich in die weiße Kleidung in denen man die Menschen zu Grabe legt, um damit zu zeigen, daß er bereit war, jederzeit zu sterben und machte sich auf, um den Priester zu suchen. Er wanderte von Dorf zu Dorf, und überall, wo er auf Menschen traf, fragte er nach dem Wandermönch. Gerne gab man ihm Bescheid: “Vor drei, vier Tagen ist er hier durchgekommen”, oder: “gerade gestern war er hier bei uns im Ort, er kann noch nicht weit sein!” Emon Saburô wurde durch solche Antworten ermutigt und dachte: “Bald habe ich ihn eingeholt, bald kann ich vor ihn treten,” und er lief aus Leibeskräften.
Er hatte keinen leichten Weg, zu den damaligen Zeiten waren die Straßen noch nicht ausgebaut, Saburô mußte sich durch den wilden Wald kämpfen, durch reißende Bäche waten und Gebirgspässe, an denen Wölfe lauerten, überwinden. Und stets war Hunger sein Gefährte. Er mochte sich aber noch so sehr anstrengen, er konnte den Mönch, der doch ganz in der Nähe sein mußte, nie erreichen. Nur ein oder zwei Tage trennten ihn von dem ersehnten Ziel. Emon Saburô ging um ganz Shikoku herum, er ging einmal, zweimal, aber der Wanderpriester war ihm immer um einige wenige Tage voraus.
“Noch einmal, dann treffe ich ihn mit Sicherheit!” Ohne je richtig zu rasten, verfolgte der Mann sein Wunschziel, er war bereits zum dritten und vierten Mal um Shikoku gewandert. Er ging von Dorf zu Dorf, von Tempel zu Tempel und hinterließ überall Wort von seiner Reise und seinem Begehr. Er schlug in den Schreinen und Tempeln Zettel an, wie es auch heute noch die Pilger tun, Zettel mit Namen und Herkunft.
Die Zeit verging, schon waren mehr als zehn Jahre verflossen und Emon Saburô hatte Shikoku zwanzig Mal zu Fuß umreist. Er wurde alt, seine Haare bleichten, und er wurde allmählich müde. Aber das Ziel, endlich auf den Wandermönch zu treffen, wollte er niemals aufgeben. Er rüstete sich zur 21. Wanderung, und er dachte: “Wenn ich so weitermache wie bisher, finde ich den Heiligen nie, ich renne ihm vergebens nach. Ich will meine Fahrt auf dem umgekehrten Weg machen, vielleicht ist mir dann mehr Erfolg beschieden.”
Und wieder zog er durch die vier Länder der Insel Shikoku, bis er Awa, die heutige Präfektur Tokushima, erreichte. Am 20. Tag des 10. Monats im 8. Jahr der Epoche Tenchô ( 831 ) kam er den Fuß des Berges, auf dem der Tempel Shôsan-ji (Nr. 12) steht, und nun war er endlich mit seiner Kraft am Ende. Matt sank er am Wegrand nieder, seine Augen verschleierten sich, und seine Seele rüstete sich zum Abschied von der Erde. Da vernahm er, wie eine sanfte Stimme ihn rief: “Saburô, Saburô kannst du mich hören, ich bin’s, den du so lange gesucht hast!
Mühsam öffnete der alte Mann die Augen, und er sah einen Wandermönch vor sich stehen. Der hatte eine eiserne Almosenschale in den Händen, es war die Gestalt, die sich in Saburôs Gehirn eingebrannt hatte, und die ihn bei Tag und Nacht nie verließ.
Er seufzte glücklich: “Du bist es, würdiger Mann, endlich habe ich dich gefunden. Zwanzig Mal bin ich schon um Shikoku herumgewandert und habe dich gesucht. Und endlich! Höre nun auch meine Bitte und verzeih mir, daß ich dich einst so sehr beleidigt habe.
Saburô erzählte von seinem schuldbeladenen Leben in früheren Zeiten und bat unter Tränen um Vergebung. Der Priester antwortete freundlich: “Es ist gut, all deine Sünden sind abgewaschen. Deine sterbliche Hülle und dein Herz sind klar und rein wie ein Spiegel geworden. Mach dir keine Gedanken, du bist gerettet. Dein Leben aber geht hier und heute zu Ende. Wenn du noch irgend einen Wunsch haben solltest, dann laß mich hören!
Saburô blickte in die guten Augen des Heiligen und sagte: “Wie soll ich dir nur danken? Einen Wunsch, sagst du? Ach, wenn ich noch einmal auf diese Welt kommen dürfte, dann möchte ich in der unmittelbaren Familie des Landesherrn Kôno geboren werden. Dann hätte ich die Macht, Gutes für die Landbevölkerung zu tun.
Der Wandermönch nahm einen kleinen Stein vom Weg auf, ritzte “Emon Saburô” darauf ein und gab ihn dem müden Mann in die linke Hand. Der schloß seine Finger fest darum, dann verschied er still mit einem glücklichen Lächeln auf dem zerfurchten Gesicht.
Im folgenden Jahr kam im Hause des Feudalherrn Kôno Yasutoshi, der die Gegend von Ebara im Lande Iyo (Ehime) beherrschte, ein kleiner Junge auf die Welt. Er erhielt den Namen Yasukata und war ein gesundes, kräftiges Kind. Von Geburt an aber wollte er seine linke Hand nicht öffnen, und die Eltern machten sich deswegen große Sorgen: “Was der Kleine nur hat, er wird doch kein Krüppel sein! Man reiste zu einem Tempel in der Nähe der heißen Quellen von Dôgo und bat den Priester um Hilfe. Der Geistliche befragte den Himmel über die Zukunft des Kindes, und dann konnte er die Eltern beruhigen: “Der Kleine wird, wenn die Zeit gekommen ist, sicherlich das Händchen öffnen, macht euch weiter keine Sorgen.”
Nun begab sich im Frühling, als Yasukata drei Jahre alt geworden war, folgendes: Im Schloßgarten feierte man das Kirschblütenfest, und die Vasallen des Landesherrn, die dem guten Sake fleißig zugesprochen hatten, waren ausgelassen geworden. Man machte Späße und forderte sich gegenseitig auf, mit verborgenen Talenten zu glänzen. Yasukata mischte sich mit kindlicher Neugier unter die muntere Schar. Auf einmal aber stand das Kind ganz still, wendete sich gegen Süden und sprach laut und vernehmlich: “Namu Daishi Henjô Kongô, Namu Daishi Henjô Kongô, Namu Daishi Henjô Kongô”, die heiligen Shingon Worte.
Die Eltern und alle anderen Anwesenden erstaunten sehr, umso mehr, als das Kind nach der dritten Anrufung mit einem Male das bisher fest verschlossene linke Händchen öffnete. Und aus der kleinen Faust fiel ein runder Stein. Geschwind hob man ihn auf, und die Verwunderung wurde noch größer: Auf dem Kiesel stand deutlich lesbar eingeritzt: “Emon Saburô”. Alle starrten Yasukata an, und hie und da wurden Rufe laut: “Der Emon Saburô soll doch, als er gestorben ist…”
Yasukata wurde größer und machte den Eltern nur Freude. Als er erwachsen war, folgte er dem Vater als Herr über das Land Iyo. Er hatte eine freundliche und mitleidige Natur, er behandelte die Bauern seiner Ländereien überaus gut und sorgte dafür, daß man das Land urbar machte und das Handwerk pflegte. Seine Untertanen verehrten ihn wie einen Vater. Selten hatte man einen so guten Landesherrn gehabt.
Aus dem Weg, auf dem Emon Saburô die Insel Shikoku so viele Male umwandert hatte, wurde eine der großen Pilgerstraßen Japans. Wie Perlen liegen 88 Tempel an der langen Strecke aufgereiht. Über 1000 Jahre sind seit Saburôs Reise vergangen, aber immer noch hört man die Anrufung, die den Daishi, Kôbô Daishi nämlich, mit einbezieht: “”Namu Daishi Henjô Kongô”, immer noch wandern die Pilger in ihrer weißen Kleidung von Tempel zu Tempel, und ihre Reihe reißt nie ab.
Der Stein, den Emon Saburô bei seinem Tode in der linken Hand gehalten haben soll, wird in Tempel Nr. 51, dem Ishide-ji, gezeigt.