Die Wahrheit hinter den Japan-Klischees
Buchtitel: Was Sie dachten, niemals über Japan wissen zu wollen! 55 erleuchtende Einblicke in ein ganz anderes Land
Autor: Matthias Reich
Verlag, Erscheinungsjahr: Conbook, 2016
ISBN 978-3-95889-108-1
Die Vorstellung vom Schlaraffenland kam als Sehnsuchtsort von Hungerleidenden in die Welt, Utopia als eine Projektion politischer Philosophie. Mühen und alle Widersetzlichkeit des Alltags treiben einem aus, zu erwarten, allenthalben würden Ideal und Wirklichkeit in eins fallen. Was die Staaten der Welt angeht, so muss man überhaupt davon ausgehen, dass die wenigsten von ihnen, wie es Samuel Salzborn definiert, Staaten an und für sich darstellen. Ist einem in einem solchen zu Leben beschieden, kann man sich schon einigermaßen glücklich schätzen. Falls darin auch keine Riesenhornissen herumschwirren, gleich noch ein bisschen mehr. Letztere könnten einem in Japan das Botanisieren verleiden, erfährt man bei Matthias Reich. (Gemäß Wikipedia sterben dort im Durchschnitt nämlich 40 Menschen pro Jahr am Stich der Asiatischen Riesenhornisse.) Wie man überhaupt in diesem Buch so einiges erfährt, was einem sein Faible für Japan etwas eintrüben könnte. Der seit Jahren im Lande weilende Autor stellt allerdings klar, es würden ihm mindestens ebenso viele Vorbehalte gegen gewisse Zustände und Gepflogenheiten im Land seiner Herkunft einfallen. Den Tonfall der Herablassung tragen seine Schilderungen nicht, was die Lektüre zuweilen recht erbaulich macht. Alles andere als erbaulich kann indes japanische Realpolitik sein, wie unlängst (Juni 2016) der amtierende Finanzminister Aso einmal mehr unter Beweis gestellt hat. Richtete er doch in formvollendeter Taktlosigkeit an die Adresse aller Neunzigjährigen die Frage, um wie viele Jahre sie denn noch älter zu werden gedenken. Der Subtext, doch bitte pflichtschuldigst abzukratzen, verschlug selbst einem Kolumnisten der Japan Times die Sprache.
Die Sache mit den vielen Hundertjährigen zieht der Autor übrigens süffisant in Zweifel. Die Familienregister würden nämlich nicht immer mit der hierfür erforderlichen Akribie à jour gehalten (werden können), was im Hinblick auf die Mobilität der Japaner generell ein mühseliges Betreiben verheißt. Das Kuriosum, dass einer Gemeinde die Ehrung eines 200-Jährigen zukam, Hinterbliebene mitunter die Renten von Dahingeschiedenen beziehen, deren Ableben zu melden schlicht vergessen wurde, hebt sich von anderen Absonderlichkeiten gar nicht mehr so deutlich ab. Dass Japaner nur gesunde Sachen essen – ein Schmäh. Dass die japanische Provinz infrastrukturmäßig mit der Wüste Gobi konkurriert – wer hätte das für möglich gehalten? Dass man sich als japanischer Taxifahrer keineswegs auskennen muss in der Gegend, in der man rumgurkt, beschert Fahrgästen so manche Beschwernis. Matthias Reich verrät: Japaner sind gar nicht so nett. Wer in Japan durch Natur- und andere Katastrophen zu Schaden kommt, zahlt häufig doppelt drauf. Zum persönlichen Leid trifft ihn oder sie auch noch die schroffe Ablehnung durch die eigenen Landsleute. Das japanische Fernsehen ist das trivialste der Welt. Sich in Japan zu verschulden, verheißt das Ende von lustig. Kinderfreundlichkeit ist eine Tugend, die man behauptet, aber nicht lebt. Japanische Eigennamen korrekt zu lesen, bedeutet selbst für Muttersprachler eine Herausforderung. Gewisse Sehenswürdigkeiten sind es im Grunde gar nicht wert und wie man in Japan mit den eher unschönen Details der Vergangenheit verfährt – man stellt sie in den Textbüchern zum Unterricht eben anders dar.
Reicht das alles hin, um sein Interesse an Japan zu überdenken? Nein, denn man kennt ja die eigenen Pappenheimer.
In der April-Ausgabe der Interview-Zeitschrift Galore antwortete die deutsche Regisseurin Doris Dörrie auf die Frage von Sylvie-Sophie Schindler, ob sie, die es über die Jahre immer wieder nach Japan gezogen hat und deren Filme zuweilen in Japan handeln, es sich vorstellen könnte einmal tatsächlich nach Japan zu übersiedeln: „Nein. Japan ist leider ein rassistisches Land. (…) Der Rassismus wird auch ganz offen gezeigt. Wenn ich in Japan in der U-Bahn sitze, setzen sich die Leute weg, weil ich eine Ausländerin bin.“ (Galore, April 2016, S. 131)
Es gibt also Schattenseiten. Aber natürlich nicht nur.
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