Wie man Leben soll
Buchtitel: Regeln zur Lebenspflege (Yōjōkun)
Autor: Kaibara Ekiken. Aus dem Japanischen übersetzt von Andreas Niehaus u. Julian Braun
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2010
ISBN 978-3-86205-010-9
Der japanische Universalgelehrte Ekiken (1630 – 1714) zeichnet als Verfasser zahlreicher Schriften, welche das breite Spektrum seiner Interessen reflektieren. Die ein Jahr vor seinem Ableben herausgegebenen ‚Regeln zur Lebenspflege’ können als volksbildnerischer „Ratschläger“(© Raoul Tranchirer, alias Ror Wolf) in der Tradition von Neukonfuzianismus und Daoismus gewertet werden. Darüber hinaus gewähren sie Einblick in die Lebensverhältnisse der Edo-Zeit und bleiben somit von überdauernder kulturgeschichtlicher Bedeutung. Die mögliche Lesart als „Beitrag zur körperlichen Disziplinierung der Bevölkerung“, die die Übersetzer in ihrer Einleitung als Variante zu bedenken geben (S. 22), sollte einen nicht gleich an die Kulmination dieser Gesinnung im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts („Gesundheit ist Pflicht!“) denken lassen. Die kosmologischen Hintergründe dieses erstmals vollständig ins Deutsche übertragenen Werks sind gleichwohl andere.
Dass man mit seinem Körper nicht allein sich selbst verpflichtet ist, merkt der Versponnenste spätestens dann, wenn er mit anderen gemeinsam wohnt. Und zu trachten, nicht vorzeitig aus dem Leim zu gehen, ist auch nicht gerade die unrühmlichste Tugend. Wobei schon feststeht, dass die Bewahrung der körperlichen Unversehrtheit nicht ausschließlich in den eigenen Händen liegt. Den Widerspruch zwischen kriegsadeliger Aufopferungsbereitschaft und anderweitiger Verpflichtung löst Ekiken indem er den Regelfall und die Ausnahme von demselben postuliert und mit diesem Kniff die Dinge wieder auf die Reihe setzt. Einem gehörig in die Parade zu fahren vermögen nicht nur äußerliche Unzukömmlichkeiten, sondern auch solche, die von innen her drohen. Sich nicht den Begierden zu ergeben, wäre ein weiterer Wink. [Der ‚innere Schweinehund’ scheint wohl als Chinese auffassbar, wenn man bedenkt, seit wann in diesem Kulturkreis vor allen Spielarten des Verlotterns gewarnt wird.]
Der volkstümlichen Empfehlung unserer Breiten: „Nach dem Essen sollst du ruhen, oder tausend Schritte tun“, sollte nach Ekiken nur der zweiten Hälfte entsprochen werden. Pennen nach dem Essen ist ganz besonders pfui – „Keinesfalls lege man sich nach dem Essen hin oder schlafe.“(S. 39) – umso besser beraten ist man mit Beweglichkeit: „Man sollte nach jedem Essen dreihundert Schritte gehen.“(S. 49) Es können freilich auch etwas mehr sein. In Sänften durch die Landschaft expediert zu werden steht demnach völlig außer Diskussion. [Ein Aviso für Potentaten oder gehfaule Touristen!]
Ekiken schöpft aus Schriften berühmter Gelehrter aus dem Reich der Mitte, übernimmt sie jedoch nicht unkritisch, sondern bereichert sie durch eigene Auffassungen und Adaptierungen. Dass er die Physiologie von Japanern und Chinesen nicht gleichsetzt, so haben Japaner bei den Speisen auf eine mitunter anders geartete Voraussetzung der Verträglichkeit zu achten, erinnert ein wenig an jenen Politiker, der japanische Mägen für die Aufnahme von US-amerikanischem Rindfleisch von Natur aus für ungeeignet erachtete, um die heimische Produktion elegant vor der Konkurrenz durch unliebsame Importe zu bewahren. [Die Beweisführungen Ekikens sind freilich ernsthafterer Natur.]
Die Empfehlungen sind teilweise etwas redundant, was aber möglicherweise ihre Bedeutsamkeit hervorhebt, etwa wenn es wiederholt um die Bewahrung der ‚Vitalkraft’ geht. Manches beansprucht zeitlose Gültigkeit: „Grundsätzlich sollte man vor allem frische und gesunde Lebensmittel zu sich nehmen.“(S. 83) [Sagt einem nicht nur der Hausverstand.]
„Auf leerem Magen sollte man kein frisches Obst essen.“(S. 102) klingt irgendwie vertraut. Dass sich in solcher Befindlichkeit allerdings ein Bad zu nehmen nicht empfiehlt (vgl. S. 131), mag den etwas irritieren, der mit dem gegenteiligen Rat aufgewachsen ist („Nie mit vollem Bauch ins Wasser!“).
Die Verteidigung des rechten Maßes findet eine Entsprechung im europäischen kulturellen Kontext, wie der in der Antike entwickelten Vier-Elemente-Lehre ein asiatisches Pendant zukommt. Überhaupt scheinen die „Regeln zur Lebenspflege“ dem Geist der Ars vivendi verwandt. Epiktet formuliert: „Es genügt, wenn jeder rechtschaffen das Seinige betreibt.“ Und bei Ekiken heißt es: „Man kümmere sich selbst um die Verrichtung seiner Angelegenheiten und bewege dazu Hände und Füße.“(S. 49)
Ausführliche Anmerkungen unterstützen das Verständnis des Textes. Den Kapiteln ist jeweils ein Faksimile der japanischen Originalausgabe vorangestellt.
Ein schönes Buch!
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