Mishimas Einführung in das Hagakure

Buchtitel: Zu einer Ethik der Tat. Einführung in das “Hagakure”
Originaltitel: Hagakure-nyūmon [aus dem Japanischen von Siegfried Schaarschmidt]
Autor: Yukio Mishima
Verlag, Erscheinungsjahr: Hanser, 1987
ISBN 3-446-14516-8

Als Mishima Yukio [eigentlich: Kimitake Hitaoka] am 25. November 1970, spektakulär inszeniert, im fünfundvierzigsten Lebensjahr durch seppuku aus dem Leben schied, hinterließ er ein Gesamtwerk von beeindruckendem Umfang. In wenigen Worten die Verwerfungen seiner Biographie zu schildern, kann der Widersprüchlichkeit seines Charakters nicht annähernd gerecht werden. Es sei hier lediglich darauf verwiesen, dass Marguerite Yourcenar in “Mishima ou la vision du vide” ein knappes wie ebenso einfühlsames Portrait gelungen ist, das sich überdies aller simpel bewertenden Geschwätzigkeit enthält.
Spätestens seit dem reichlich unglückseligen Film “Ghost Dog” von Jim Jarmusch, meint man auch im Westen mit dem Hagakure [wörtlich: Laubversteck] etwas anfangen zu können. Viele Auflagen in verschiedenerlei Ausstattung [jeweils nur Übertragungen von Auszügen des originalen Werkes] scheinen dies nahezulegen. Allerdings sind ein Buch zu lesen und es auch zu verstehen, zweierlei Paar Hosen, von denen nicht immer feststeht, dass sie auch wirklich übereinander passen. Zumal an allen Beinen, die sie sich überzuziehen mühen.
Im vorliegenden Buch bietet Mishima eine Kommentierung der wichtigsten Elemente des “Hauptstücks”, sowie eine Einführung in den kontextuellen Hintergrund des Hagakure nach der ihm eigenen Lesart. Dass es den Kamikaze-Piloten gereicht worden war, lässt sich dem Buch ebenso wenig zum Vorwurf machen, wie den Schriften Nietzsches, in die Tornister deutscher Soldaten gewandert zu sein.
Das Hagakure ist ein Brevier von unmissverständlicher Klarheit und vielleicht verliert man gerade deswegen über seiner Brillanz so leicht aus den Augen, wann es entstanden ist und was es, eben dadurch bedingt, evoziert. Sein geistiger Vater Yamamoto Jōchō und der “Sekretär” und Kompilator seiner Gedanken, Tashiro Tsuramoto, lebten beide im 18. Jahrhundert. Die Ära Tokugawa hatte Japan Einigung und inneren Frieden beschert. Das gemeinhin als Kompendium der Samurai-Lehre gehandelte Hagakure entstand also in einer Epoche, da die Blütezeit der Samurai bereits Geschichte war. Es wurde nostalgisch verfasst in Hinblick auf eine dauerhafte Bewahrung von Werten, die in idealisierter Vergangenheit vermeintlich vorherrschend waren. Und genau das ist der Knackpunkt, an dem scheitern muss, wer es als Anweisung für die Rückführung gegenwärtiger Zustände auf die glorreichen Verfasstheiten von ehedem missdeutet. Ironischerweise hat auch Mishima erkannt, dass es politisch zu lesen dem Hagakure keinesfalls angemessen wäre. “Weil nun aber das ‚Hagakure’ während des Krieges politischen Zwecken nutzbar gemacht wurde, gibt es noch immer Leute, die es politisch interpretieren; dabei ist im ‚Hagakure’ absolut nichts Politisches enthalten.” [S. 41]
Die Betrachtungen im Hagakure kreisen um Tatkraft, um Liebe, Sterben und Tod. Wie die Haupttugend des Kriegers, die Bereitschaft zu sterben und die mit ihr verbundene entsetzliche Vielfalt der Todesarten mit den akkuraten Purifikationsritualen des Shinto in Einklang zu bringen sind, vermochte auch Mishima nicht auf die Reihe zu bringen. Wir tun uns da noch schwerer, über dieses Paradoxon hinwegzusehen. Verständlich, dass die Philosophie des Zen der Geisteshaltung der Samurai zupass kam: Handlungsbewusstsein, Selbstversenkung, Gefasstheit. Aber in letzter Konsequenz kann es einem Zen-Meister niemals unterlaufen, Sinn zu konstruieren und sich somit absichtlich darin zu verstricken, was im Buddhismus als Samsara, als die Ursache aller Leiden, feststeht. Gleichwohl zählt es zu den grellsten Widersprüchlichkeiten der japanischen Geschichte, auch Zeiten Krieg führender, pazifistischer Mönche gekannt zu haben.
Vielleicht noch seltsamer muten die Betrachtungen über die Liebe zwischen den Geschlechtern an. Yamamoto Jōchō beklagt eine Verweichlichung und Verweiblichung der Gesellschaft. Sind es nicht die Darstellerinnen des onna kabuki gewesen, die das Gehabe stolzierender Krieger in theatralischer Überhöhung zum Gaudium ihres Publikums der Lächerlichkeit preiszugeben wussten? Verboten wurde das Frauen-Kabuki aber wegen angeblicher Sittenwidrigkeit der Tänze. Dass Jahrhunderte zuvor die rechtliche Position der Frauen Japans eine wesentlich stärkere gewesen war, dass es fulminante Protagonistinnen der Geschichte wie Hojo Masako gegeben hatte, scheint zu Zeiten des Hagakure schon keines Gedenkens mehr wert. Und die Idealisierung der Liebe als unerwiderte Projektion auf eine zum Idealwesen erkorene Geliebte, kaschiert nur ungenügend eines allzu deutlich: das Dilemma männlicher Liebesunfähigkeit.
Sowohl das Hagakure, als auch verwandte Verherrlichungen des Ritterstandes in den Kulturen Europas, sehen über eines immer geflissentlich hinweg: Dass sich dieser Stand der sich selbst dazu stilisierenden oder verhinderten Helden niemals und nirgendwo selbst ernährt hat! Die Familien der Reisbauern, die gegen die Widrigkeiten der Wetterläufe (der natürlichen, wie der politischen) unter viel Plackerei und stiller Mühe ihre Felder bestellten, in erbärmlichen Katen hausten und die Willkür ihrer Landesherren zu ertragen hatten, haben die nicht ebenso ein Heldentum hervorgebracht, das seiner Würdigung indes noch harrt?
Wozu das Hagakure heute noch dienlich sein kann, ist eine andere Ungeheuerlichkeit. Seine unverstellte Bedachtnahme auf des Menschen Sterblichkeit und die Bedeutung für das Leben, die aus dieser Einsicht erwächst. Damit reiht sich das Hagakure in die Tradition der Tröstungsliteratur, wie wir sie in beinahe allen Schriftkulturen der Menschheit finden. Und es verweist auf einen Japaner, der nach seinem Rückzug aus der Verschlagenheit der Gegenwart, Jahrhunderte vor Yamamoto Jōchō ein Buch von ganz anderem Wesen geschrieben hat: Kenkô Yoshida und sein Tsurezuregusa.



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