(Keine) Zeit zum Schlafen?
Buchtitel: (Keine) Zeit zum Schlafen? Kulturhistorische und sozialanthropologische Erkundungen japanischer Schlafgewohnheiten
Autorin: Brigitte Steger
Verlag, Erscheinungsjahr: Lit, 2004
ISBN 3-8258-6993-8
Es gibt also nichts, was nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung werden könnte, ließe sich angesichts der vorliegenden monieren. Ich füge aber gleich hinzu: Glücklicherweise! Über das Schlafen zu forschen hat einmal etwas Unverfängliches (“Wer schläft, sündigt nicht.”), zum andern: Wenn das Ergebnis so lesbar ausfällt, wie diese Studie, kann man nur entzückt sein. Brigitte Steger hat mit ihr 2001 am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien ihre Dissertation im Fach Japanologie vorgelegt.
Das Buch beginnt mit einer Darlegung der Methodologie und dem Verweis, Clifford Geertz’ Prinzip der “dichten Beschreibung” verpflichtet zu sein. Was Schlaf überhaupt ist, ob Schlaf als Zustand oder Aktivität anzusprechen sei, ist in der Scientific Community nach wie vor nicht geklärt. (Georg Christoph Lichtenberg: “Als ich so schlief und studierte …”)
Natürlich ist Schlaf nicht gleich Schlaf und es gibt vielfältige Variationen des Dämmers. Auch in Japan. “soine (bei jemandem schlafen, um ihr / ihm Geborgenheit zu vermitteln), hirune (Mittagsschlaf), inemuri (anwesend sein und schlafen), issui (ein kurzes Nickerchen), anmin (sicherer Schlaf), madoromi (Schläfchen), tanuki neiri (Dachsschlaf, d. h. sich schlafend stellen), kamin (temporäres Schläfchen, eher medizinisch neutral verwendet), utatane (Nickerchen, konnotiert ein Wohlgefühl), gorone (herumliegen und schlafen) …”(S. 41). Im Folgenden bleibt der Fokus allerdings auf inemuri konzentriert, jener Form des Nickerchens, das solange nicht als Wegpennen gilt, solange es nicht von anderen als Affront empfunden werden kann. Also pflegt man inemuri in der U-Bahn, im Klassenzimmer, auf Parkbänken und natürlich im Parlament. Offiziell befindet man sich dabei immer in einem konzentrierten, dösenden Zustand latenter Aufmerksamkeit. Ein Schuft, wer anderes unterstellt. Und jene Zeitungen, die mit Wonne schlafende Politiker konterfeien, sind nur nicht in der Lage die Last ihrer Verantwortung richtig wahrzunehmen.
Das Buch gewährt Einblick in die Kulturgeschichte der Zeitmessung in Japan. Europäische Uhren erwiesen sich bis zur Meiji-Restauration als unbrauchbar, da die Stundeneinteilung ganz anderen zeitlichen Intervallen folgte. Dennoch gibt es mechanische Uhren in Japan (Shaku-dokei) seit Anfang des 17. Jahrhunderts, allerdings in für Europäer ungewohnter Gestaltung (Abbildung S. 84).
Im internationalen Vergleich schlafen die Menschen Ostasiens insgesamt weniger als jene Nordamerikas oder Europas, Japaner schlafen um ein Quäntchen weniger als Koreaner und von den Japanern sind es die Frauen und Oberschüler, die am wenigsten zu Schlaf kommen. Dass Langschläferei in Japan mit Faulheit assoziiert wird, durfte die Autorin bei ihren zahlreichen Aufenthalten in Japan am eigenen Leib erfahren: Mit ihrem Pensum von 7 – 8 Stunden wird sie der Fraktion der Schlafmützen zugerechnet. [Dass kein geringerer als Moses Maimonides bereits den 8-Stunden-Schlaf legitimiert hat, dürfte in Japan also nicht verfangen!]
Die verhältnismäßig geringe oder aufgesplitterte Schlafenszeit der Japaner wird dadurch gerechtfertigt, dass es eben viel zu tun gäbe. Arbeits-, Freizeit- und Lernstress wird demnach auch noch von Schlafstress begleitet. Übrigens: “Im Schlaf ein Mittel des Ausruhens und der Regenerierung zu sehen, deren optimale Dauer zu beachten eine Notwendigkeit darstelle, um optimale Leistungen zu erbringen, war (…) eine in Japan vor dem westlichen Einfluss unbekannte Idee.” (S. 168)
Bereits Prinz Genji, der Protagonist im Genji monogatari, nickt immer wieder kurz ein. Und inemuri ist schlechthin der “Bereitschaftsschlaf” der Samurai. Im Film Shichinin no samurai von Korosawa entlarvt sich der Bauer unter den Sieben bekanntlich dadurch, dass er wirklich schläft.
Interessante Aufschlüsse bietet das Resümee: “Ich halte es für wahrscheinlich, dass die verbreitete Gewohnheit des inemuri historisch durch die Notwendigkeit begünstigt wurde, sogar im Schlaf noch wachsam sein zu müssen. Inemuri kann entgegen der verbreiteten Ansicht nicht als Symbol oder Indiz für das hohe Maß an öffentlicher Sicherheit in Japan gewertet werden, sondern ganz im Gegenteil als Ausdruck für das geringe Vertrauen in die nächtliche Sicherheit. Was inemuri in der Öffentlichkeit sicher macht, ist etwas ganz anderes, nämlich seine soziale Akzeptanz. Inemuri wirkt auch als eine Art Tarnkappe, durch die man sozial unsichtbar wird. Es befreit deshalb von bestimmten Verpflichtungen und wirkt als ein sensibel zu handhabendes kulturelles Instrument des Umgangs mit sozialen Hierarchien und Involviertheiten.” (S. 415 f.)
In einer Besprechung des Buches wurde die Anekdote kolportiert, in Wien wäre ein Deal zwischen einer großen österreichischen und einer japanischen Firma deshalb geplatzt, weil sich die Österreicher durch das inemuri der japanischen Partner am Verhandlungstisch vor den Kopf gestoßen fühlten. Das nimmt sich zwar etwas haarsträubend aus, belegte aber auf alle Fälle den Wert kulturwissenschaftlicher Studien wie der vorliegenden. Von wegen Orchideenfach!
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