Mister Aufziehvogel
Buchtitel: Mister Aufziehvogel [Nejimaki-dori Kuronikuru]
Autor: Haruki Murakami [Übersetzung der Übertragung ins Englische von Giovanni u. Ditte Bandini]
Verlag, Erscheinungsjahr: btb, 2000
ISBN 3-442-72668-9
Wenn David Lynch nicht seine Zeit damit vertändelt hätte Filme zu machen, von denen man wünschte sie wären ein kleinwenig anders gemacht worden, dann hätte er, wer weiß, vielleicht diesen Roman geschrieben. Aber nachdem nun einmal die Welt ist wie sie ist, und das bedeutet schon eine ganze Menge worüber man nicht sprechen kann, macht David Lynch Filme und übernimmt es Haruki Murakami Romane zu verfertigen. Die dann eben so seltsam anmutende Titel tragen wie “Mister Aufziehvogel”.
Erhebt sich ganz entschieden die Frage: Soll man Telefonbücher wirklich lesen oder sie nur zum Nachschlagen benutzen? Voller Indiskretionen sind solche Verzeichnisse bekanntlich ja nur für Menschen mit blühender Phantasie. Das Tableau der Protagonisten ist zwar nicht gerade ein kümmerliches und vermag damit die Besetzung eines jeden Marstheaters ziemlich bemüht aussehen zu lassen. Allein die Handlung, falls überhaupt erkennbar, verschleppt sich doch etwas tröge.
Romane mit Index werden in der anglophonen Welt unter “non fiction” schubladisiert. [Oh Segnung der Globalisierung: Britische Verlage pflegen als neueste Errungenschaft die Erstellung von Namen- und Sachregister nach Indien outzusourcen!] In der österreichischen Literatur hat bislang nur Martin Amanshauser einem seiner Romane ein Stichwortverzeichnis beigegeben. Sehr taktvoll! Murakamis Bücher warten, inhaltsmäßig wie auch stilistisch und so, mit allen möglichen Finessen auf. Nur Thesaurus bieten sie keinen. [Dazu passende philologische Glossare werden halt Literaturwissenschaftler erstellen.]
So muss man sich selbstständig durch “Mister Aufziehvogel” (764 Seiten!) hindurchmeißeln, dabei vielleicht immer wieder den launig klingelnden, brummig-raunzenden Refrain des Pop-Songs “Workin’ in a coal-mine” von irgendwoher vernehmend.
Herr Toru Okada wächst einem gleich ans Herz. Als wäre man es selber. Einer, der den Hut draufgehauen hat und sich, in Absprache mit seiner Ehefrau Kumiko, eine unbefristete Auszeit gönnt von jener Wahnvorstellung, der jedermann in blinder Verfolgung seiner Karriere zu erliegen pflegt.
Also fängt er an zu kochen, die Wäsche zu waschen, zu putzen und Einkäufe zu besorgen, kurz: als Mann den gemeinsamen Haushalt zu schmeißen. [Wohl gemerkt, Herr Okada ist Japaner!]
Dann jedoch wird durch den Entschluß es anders zu betreiben als wie vorhergesehen, sich nämlich nicht darum zu scheren Anwalt zu werden, sehr viel Unvorhersehbares ausgelöst. Herr Okada erhält seltsame Anrufe, macht die Bekanntschaft zweier Schwestern mit merkwürdigen Vornamen (Malta & Kreta Kano), gewinnt in der Nachbarschaft die Freundschaft einer Siebzehnjährigen mit bizarrem Faible, lernt die Geschichte eines leerstehenden Hauses näher kennen, sieht den gemeinsamen Kater verschwinden und sich, von einem Tag auf den andern, von seiner Frau verlassen.
Aus den Händen eines betagten Veteranen der Kaiserlichen Armee erhält er die merkwürdige Hinterlassenschaft eines verstorbenen Wahrsagers, erfährt von begangenen, längst nicht vergangenen Untaten in Mandschukuo, durchschaut seinen ambitionierten Schwager, bekommt es mit einer Witwe und ihrem stummen Sohn zu tun, die sich die Pseudonyme Muskat und Zimt geben, beginnt sich in einem trocken gefallenen Brunnenschacht aufzuhalten und zu begreifen, daß Wirklichkeit ein Zusammenspiel von Ereignissen ist, die sich an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten ineinander verschränken und Gegenwart jeweils in Anhäufungen von Folgen aus der Vergangenheit kulminiert, sich für den Menschen als Realität perfiderweise immer nur eines stellt: die Unausweichlichkeit. Das schnarrende Geräusch des Aufziehvogels, vernommen von Menschen, die seiner nie ansichtig werden, orchestriert die Erkenntnis des Eingespanntseins der menschlichen Existenz in Vollzüge einer Notwendigkeit, die sich tieferer Durchdringung entzieht. Der menschlichen Freiheit bleibt es beschieden, sich allenfalls zum Protagonisten dieser Notwendigkeit aufzuspielen oder, andernfalls, ihr Opfer zu werden.
Ein großartiges, ein philosophisches Buch, das nebenbei auch so etwas Abgeschmacktes wie die Kraft der Liebe überzeugend transportiert. Schon weil er keine Filme macht, ist Murakami auch der bessere Lynch.
Mindestens aber eine Passage zählt zu den am schwersten erträglichen Momenten der an grausigem Realismus nicht eben armen, jüngeren asiatischen Literatur. Vergleichbar nur mit der Beschreibung des Herzausreißens in Ha Jins überaus wichtigem Roman War Trash.
Die so seltsame wie unergründliche Verbindung von allem mit allem, soll noch folgender Zufall beleuchten: Im Roman berichtet der betagte, schicksalsbehaftete Leutnant Mamiya Herrn Okada davon, wie er in Hsin-ching (Mandschukuo) gezwungen worden war, chinesische Deserteure der Kwantung-Armee mit aufgepflanztem Bajonett niederzumachen. In der Woche, in der ich das lese, entnehme ich der Asahi Shimbun (Online-Ausgabe, englische Version) die Lebensgeschichte des 92jährigen Kriegsveteranen Ryutaro Honda, der aus seinem Trauma, einen chinesischen Gefangenen auf Befehl auf dieselbe grausame Art getötet zu haben, den Ansporn gewann, über viele, viele Jahre in ganz Japan (und darüber hinaus) den jüngeren Generationen die Wahrheit über den Krieg zu erzählen. (Ein Krieg kennt keine Sieger, schon gar nicht in Person von Überlebenden!)
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