3.11

Buchtitel: Reportage Japan. Außer Kontrolle und in Bewegung
Autorin: Judith Brandner
Verlag, Erscheinungsjahr: Picus, 2012
ISBN 978-3-7117-1017-8

„Reportagen aus Japan“ unter der Regie von Judith Brandner kennen Hörerinnen und Hörer des Rundfunksenders Ö1 [Etwa jüngst ihr Interview mit dem Japanologen Florian Coulmas im Rahmen der Sendereihe „Im Gespräch“, am 8. März 2012]. Gelegentlich stößt man auf ihre Beiträge auch in der Samstagsbeilage der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“. Sie ist eine Berichterstatterin, die das Los der gewöhnlichen Leute in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellt, was eine Anteilnahme mitunter umso eindringlicher werden lässt. Der Mär vom Asiaten als stillem Dulder des Unsäglichen, die manche gelegentlich noch mit Japan assoziieren, liefert sie nicht die Grundlage. Das Ausmaß der Folgen von Tsunami und Atomkraftwerksgau, gebündelt in dem Kürzel 3.11, für die Reisbauern der Region Tohoku etwa, wagt man sich nicht auszumalen. Auch, was es bedeutet, dass es ganze Ortschaften nicht mehr gibt und wie vermeintlich schleppend eine Wiederbesiedelung vonstatten geht. Tatsächlich wollen große Gebiete neu vermessen und „wasserdichte“ Masterpläne für die Zukunft erstellt werden, was die Geduld der in Notunterkünfte Verbannten zweifelsohne belastet. Bemerkenswert, dass jetzt zum Zeitpunkt, da die meisten AKWs Japans vom Netz sind, dennoch die Stromversorgung nicht zusammenbricht. Schon weniger bemerkenswert, dass sich eine bestimmte Lobby als so unverwüstlich wie Godzilla erweist. Dass der Fernsehsender NHK sehr ausgewählt berichtet, wie man hört, und einer der Hauptaktionäre Tepcos ist, fällt gewiss nicht zufällig in eins. In Kumatori trifft Judith Brandner auf den Atomexperten und Atomkraftkritiker Koide Hiroaki. Der sieht die Sachlage pessimistisch. Die Krebsrate in Japan werde innert der nächsten Jahre steigen. Kontaminierte Lebensmittel würden im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ins Ausland verfrachtet, die Kontrollen im Inland erfolgten nicht flächendeckend und wenig zweckdienlich. Der Bürgermeister von Minamisoma wähnt sich von der Zentralregierung und den Atomkraftbetreibern im Stich gelassen und wird auf YouTube zum prominenten Anwalt seiner schwer in Mitleidenschaft gezogenen Gemeinde. Und während eine Schriftstellerin wie Yoshimoto Banana sich in Ratlosigkeit ergeht [im letzten Diogenes-Magazin], geht Murakami Haruki in der Plauderstunde, die er Frau Brandner gewährt, das Geimpfte auf: Würde in Japan eine Volksabstimmung abgehalten werden über die Nutzung der Atomenergie, gibt er sich überzeugt, es fände sich eine Mehrheit, die sich dagegen ausspräche. Außerdem gehörten etliche Verantwortliche hinter Schloss und Riegel. Eine preisgegebene Stadt wie Futaba zu betreten, bleibt den evakuierten Bewohnern für die nächsten Dezennien verwehrt. Ein Teil von ihnen bezieht eine ehemalige Schule in Kazo-Shi als Notunterkunft. Die Menschen werden aus o-bentos verköstigt und bewohnen eine Privatheit in Hühnerkäfiggröße. Der besorgte Bürgermeister schildert, auf welche Weise Behörden und Atomkraftbetreiber in der Vergangenheit seine Bedenken zurückgewiesen haben. Auf Österreichisch ließe sich sagen: der Mann wurde abgeschoasselt. Wie Idokawa Katsutaka seinem Gram darüber Worte verleiht, war auch in einer Radiosendung zu hören [„Ein Jahr nach Fukushima. Die Evakuierten von Futaba“, Ö1, Journal-Panorama, 27.2.2012]. Ebenso der verstörende Umstand, dass sich der Friseur von Futaba mit seiner Lizenz in der Präfektur Saitama brausen gehen kann. Er sich somit außerstande sieht seinem angestammten Broterwerb im Quasi-Exil nachgehen zu können. Ein weltgewandter Arzt in Natori, der sich als Psychiater traumatisierter Menschen annimmt, bekundet Haarsträubendes: „In Japan gibt es keine psychosoziale Ausbildung.“(S. 122). Irritierend auch die Erfahrungen, welche die Autorin mit Studierenden an der Städtischen Universität Nagoya im Seminar sammelt.
Ein lesenswertes Buch!



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