Japan und die Krise
Buchtitel: Japans „Strukturreform“ – was jetzt geändert werden muss
Autor: Sawa Takamitsu [Aus dem Japanischen von Verena Blechinger-Talcott und Hiroomi Fukuzawa …]
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2010
ISBN 978-3-89129-874-9
Bereits einige Jahre vor dem Zusammenkrachen des real-existierenden Sozialismus in Osteuropa malte ein Wirtschaftsjournalist euphorisch den „Endsieg des Kapitalismus“ als Titel auf eins seiner Bücher. Angesichts der gegenwärtigen Kulmination multikausaler Problemlagen möchte man den leicht belehrend gefassten Begriff des „Spätkapitalismus“ wieder eingeführt sehen, in der Hoffnung, diesem wolle eine gerechtere Strukturierung der Weltwirtschaft nachfolgen. Die Kritik an der von der Frankfurter Schule wiederverwendeten Terminologie, sie versuche mit einem Maßstab von gestern das Morgen zu vermessen, vorgebracht etwa von René König, lässt sich freilich nicht ganz von der Hand weisen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Wirtschaftswissenschaften mit einem Instrumentarium arbeiten, ex ante und ex post sozusagen, das eher dem 19. als dem 20. Jahrhundert entnommen scheint, wie es der chilenische Träger des alternativen Nobelpreises Manfred Max-Neef auf den Punkt bringt. Ein bizarres Manko, das in den Naturwissenschaften undenkbar wäre.
Damit ist das Dilemma umrissen, mit dem man es zu tun bekommt, wenn man sich auf das Terrain der Kritik an den (welt)wirtschaftlichen Verhältnissen begibt. Eine ideologiefreie, eine nicht-interessengeleitete Intervention, scheint mir per se ein Ding der Unmöglichkeit.
Nicht zuletzt vor den obgenannten gegenwärtigen Schwierigkeiten in Europa und den Vereinigten Staaten, kann man Sawas Buch, im Original 2003 erschienen, auch als Vademekum studieren. Freilich drängt sich dann auch gleich die Frage auf: Hat es denn in Japan etwas bewirkt?
Dass die Vorschläge des renommierten japanischen Wirtschaftswissenschaftlers zumindest in gewissen Kreisen kontroversiell rezipiert worden sind, mag das eine sein, dass die Politik sie bislang nicht aufgegriffen hat, trotz der Regierungswechsel seit der ‚Ära’ Koizumi, das andere, ebenso ernüchternde Faktum. Aber ist es ein japanisches Spezifikum, dass die Politik nicht immer völlig durchdacht scheinende Leitlinien setzt?
Vor Jahren hielt der gegenwärtige Staatspräsident der Republik Tschechien, Václav Klaus, im Rahmen eines Vortrags in Wien die Wirtschaftspolitik der ‚Eisernen Lady’ Margaret Thatcher für eine der Segnungen, die seinem Land zuteil werden sollten. Auf die Frage aus dem Publikum, ob er damit auch den Kollateralschaden der „box people“, jener Obdachlosen, die in den Londoner U-Bahn-Entrees in Schachteln vegetierten, in Kauf nehmen würde, bejahte er ohne Zögern. Eigentlich ist das das Kennzeichen einer dubiosen Religion: Die einen geben sich vollmundig bereit Opfer zu bringen, während sie andere opfern. Was Wunder, dass im Diskurs um die Interpretationshoheit der (welt)wirtschaftlichen Probleme auch der Begriff „Marktreligiosität“ geprägt wurde. Der Vorstellung von der umsichtig lenkenden Hand des freien Marktes erteilt Sawa eine deutliche Absage.
Sawa skizziert das Frachtschiff ‚Japan’, das am Übergang in die postindustrielle Gesellschaft, dank verpasster oder verpatzter Strukturreformen, in gefährliche Schieflage geraten ist. Dem Befund „Kein anderes Industrieland weist desolatere Staatsfinanzen auf als Japan“(S. 44), könnte man zwar dagegenhalten, dass es dennoch weniger stark im Ausland verschuldet ist als etwa Großbritannien oder die Vereinigten Staaten, den Handlungsspielraum der Politik schränkt das aber trotzdem ein. Die Vorschläge die Sawa anführt, um den marktfundamentalistischen Kurs Koizumis zu revidieren, nehmen sich fürs erste verfänglich aus. Er setzt auf Dezentralisierung, mithin auf eine Verwaltungsreform (gegen welche Beharrungskräfte ein solches Ansinnen anzurennen hätte, kann man als Außenstehender kaum angemessen beurteilen), auf Reform des Gesundheitswesens (auch eine Maßnahme die offensichtlich um die Welt tingelt, wenn man diesbezügliche Debatten in Deutschland und Österreich verfolgt!), sowie auf Bildungsreform (seine Einschätzung, die Qualität der Universitätsabschlüsse wäre in Japan seit Jahren rückläufig, nimmt sich ketzerisch aus, lässt die Problematik der dennoch qualifizierten Hochschulabgänger in gar keinen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen aber unbeachtet).
Der Autor fungierte zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Werkes auch als Herausgeber eines Bandes, der sich mit internationalen Vereinbarungen und technologischen Strategien angesichts des drohenden Klimawandels beschäftigte. Er hält die Herausforderungen des Kyoto-Protokolls als Chance neue Technologien zu entwickeln und damit Japan (und seiner Exportkraft) Innovationsschübe zu bescheren. Alles in allem ist Sawa als Verfechter eines gerechteren Staates kenntlich, der die Ethik einer sozialen Verantwortlichkeit einfordert.
Inwieweit die hier aufgezeigten Perspektiven zwischenzeitlich von anderen Prioritäten überlagert werden – das tagespolitische Geschäft des amtierenden Ministerpräsidenten Hatoyama ist gewiss kein beneidenswertes – mag dahingestellt sein. Die Reglementierung der Finanzmärkte beispielsweise, seit Jahren von niemand Geringerem als George Soros gefordert, kann nationalstaatlich gar nicht bewerkstelligt werden. Man vergegenwärtige sich, worauf der Ökonom Max Otte vor einiger Zeit verwiesen hat: „Finanzderivate machen mittlerweile das Fünffache des Weltsozialprodukts aus.“
Dem interessanten Buch hätte ein begleitendes Vor- oder Nachwort, das die Aufnahme der Vorschläge zur „Strukturreform“ in Japan beleuchtete, ganz gut getan. Aber das will freilich keinen Vorwand liefern sich mit den Gedanken dieses Buches nicht zu beschäftigen!
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