Die Entwicklung der Nachbarschaft

Buchtitel: Nachbarschaft und Urbanisierung in Japan 1890 – 1970
Autorin: Katja Schmidtpott
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2009
ISBN 978-3-89129-917-3

Gesetzt man vermag sich grundsätzlich für die hier geschilderte Thematik zu erwärmen, erwartet einen eine sehr kurzweilige, informative Lektüre, bei der man Erhellendes über die Mentalität der Japanerinnen und Japaner erfährt, das gängige Klischees und bemühte Selbststilisierungen gerade nicht bedient. Dem vermeintlichen Konformitätsdruck wusste man offensichtlich immer wieder gegenzusteuern, sei es durch Widersetzlichkeit, Beharrlichkeit oder Ignoranz. Wenn man bedenkt, dass in der Ära Tokugawa so etwas wie ein Überwachungsstaat geradezu Metternich’scher Façon etabliert werden konnte, der die japanische Gesellschaft unter weitreichenden Restriktionen lähmte, verwundert die geringe Durchsetzungskraft behördlicher Anordnungen in jener Übergangszeit, da die „vormodernen Stadtviertelgemeinschaften“ von neuen Organisationsstrukturen abgelöst werden sollten, doch sehr. Die Autorin weist allerdings darauf hin, dass allein Tokio unmittelbar nach der Meiji-Restauration zunächst einen „substantiellen Bevölkerungsverlust“(S. 43) hinzunehmen hatte und dass das hierauf wieder einsetzende, stetige Wachstum u. a. die Aufweichung der sozialen Homogenität in den Quartieren mit sich brachte. Die in der Studie genannten Schichten (Oberschicht, alte und neue Mittelschicht, Industriearbeiterschaft und städtische Unterschicht) wurden in ihren Lebensweisen natürlich von ihren je eigenen Interessen, Problemlagen und Nöten bestimmt, was per se kein sinfonisches Konzert der reinen Harmonie ergeben konnte. Der Abgehobenheit der Wohlhabenden, die ihre Nachbarschaft schon räumlich auf Distanz zu halten vermochten, standen die Massenquartiere, die „sogenannten ‚Arme-Leute-Höhlen’(hinminkutsu)“(S. 65) gegenüber, in denen sich das Privatleben gewissermaßen unter aller anderen Augen und Ohren abspielte.
Wer den Preis für die seit den 1920er Jahren boomende Verstädterung letztlich zu tragen hatte, wird offensichtlich, wenn man erfährt, dass die Aufwendungen für eine kommunale Grundversorgung (Abfallbeseitigung, Brandprävention und –bekämpfung, …) in den Stadtteilen der Obliegenheit der Bewohner selbst angedient oder schlichtweg angeordnet worden war. Was Wunder, dass das große Kantō-Erdbeben von 1923 derartige Verheerungen zeitigen konnte.
Die zunehmende Militarisierung und Indoktrinierung der Bevölkerung mag späterhin nicht in allen Köpfen angekommen sein, was sich anhand fortgesetzter Animositäten innerhalb von Nachbarschaftsgruppen erschließt, deren einziger sozialer Kitt die leidige Rationenverteilung während der Kriegszeit gewesen zu sein scheint.
Der in der einschlägigen Literatur vorherrschenden Idee, es hätte sich in den Stadtteilen der modernen Städte ein quasi-dörflicher Charakter bewahren können, entzieht die Autorin vermittels einer Reihe sprechende Belege die Grundlage.
Die Nachkriegszeit bringt im Zuge der Demokratisierung nicht nur den mündigen Bürger (sowie die erstmals wahlberechtigte mündige Bürgerin) und die Forcierung von Interessengruppen sämtlicher sozialer Couleur, sondern in der Architektur der danchi das Massenquartier in moderner Bauweise, technische Finessen inbegriffen. Die kommunikativen Auswirkungen der abschließbaren Wohnung können nicht hoch genug geschätzt werden. Nachbarschaft gewinnt unter dem steigenden Wert des Privaten an Nachrangigkeit. „Insgesamt waren die Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn distanziert, aber nicht anonym, freundlich, aber nicht vertraut.“(S. 277)

Dass die österreichische Journalistin Alice Schalek, die als berüchtigte Kriegsberichterstatterin des Ersten Weltkriegs in Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ verewigt ist, 1923 Japan und vor allem Tokio bereiste, ist nur einer von zahlreichen Hinweisen, die mir die Lektüre dieses vorzüglichen Buches sehr fruchtbar haben werden lassen. Ein Glossar versammelt japanische Fachausdrücke in einer übersichtlichen Zusammenschau.
Nicht nur Stadtsoziologen und -soziologinnen kann diese Arbeit, welche die überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin darstellt, wärmstens empfohlen werden. Historisch Interessierte erfahren über Akteure, denen gemeinhin nicht das Augenmerk geschenkt wird, das ihnen zukommen sollte: die gewöhnlichen Leute.



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