Japanische Märchen – Der Sternensand

Der Sternensand (hoshizuna)

Vor unendlich langer Zeit beschlossen die beiden Sterne, die jeweils über den Norden und den Süden im Tierkreis gesetzt sind, sich zu vermählen und Kindern das Leben zu schenken. Der Polarstern war der Gatte und das Kreuz des Südens die Gattin. Ihr Wunsch wurde gesegnet, und es rückte die Zeit heran, zu der das Kreuz des Südens die Kinder auf die Welt bringen sollte. Kurz vorher begab sich die Gemahlin zum obersten Himmelsherrn und bat ihn: „Herr, sage mir, wo ist der beste Platz für die bevorstehende Geburt?” Der Himmelsherr ließ seinen Blick für eine Weile über die irdische Welt schweifen, und er entdeckte schließlich die liebliche Insel Taketomi. Wunderschön lag sie im blauen Südmeer, und Korallenriffe, an denen sich die weißen Wellen brachen, umsäumten sie. Der Himmelsherr lächelte erfreut, als er die einladende Gegend sah, dann drehte er sich zum Kreuz des Südens und sprach milde: “Ich denke, für die Geburt deiner Kinderchen ist die Südseite von Taketomi ein guter und passender Ort. Dort sind die Wasser warm, und die Strömung im Meer ist langsam und ungefährlich. Ja, meine Liebe, begib dich zur Südseite der Insel Taketomi!”

Das Kreuz des Südens folgte gerne dem Rat des obersten Himmlischen, und es begab sich hinunter nach Taketomi. Und dort schenkte es im warmen, ruhigen Meer auf der Südseite der Insel vielen kleinen Sternenkindern das Leben. Die See glänzte friedlich im Sonnenschein, und die Korallenriffe wehrten die hohen Wellen ab. Die Wiege der Sternchen war bezaubernd schön. Die Sternenmutter betrachtete ihre Kinder voll Freude, dann stieg sie wieder hoch in den Himmel. Die Arme wußte nicht, daß sie sich einen mächtigen und furchtbaren Feind gemacht hatte.

Der Beherrscher über das Meer, der Siebendrachengott, war schnell gewahr geworden, was sich in seinem Wasserreiche zugetragen hatte. Er sah, daß die See verunreinigt war, und er wurde sehr böse. Niemand hatte ihn um Erlaubnis gefragt und einfach sein Reich für die Geburt der Sterne benutzt. Sein Zorn wuchs unermeßlich, er beschloß, diesen Frevel zu bestrafen, und deshalb rief er eine Riesenschlange, die in seinen Diensten stand, vor sich. Zu dieser sagte er, und seine Augen sprühten Feuer: “Es ist ungeheuerlich. Das Kreuz des Südens hat in meinem kristallklaren Meer viele Kinder in die Welt gesetzt und vorher nicht einmal gefragt, ob es mir auch recht ist. Das kann ich nicht dulden. Geh darum hin und vernichte diese Sternenkinder. Friß sie auf!”

Die Riesenschlange gehorchte dem Siebendrachengott, und sie begab sich sogleich in das Meer auf der Südseite von Taketomi. Dort spielten die Kinder des Sternenpaares im Wasser, und sie waren allerliebst. Die Riesenschlange riß augenblicklich ihren großen Rachen auf, verschluckte die Kinderchen und brachte sie allesamt um. Später spie sie die toten Körper wieder aus, die Wellen erfaßten sie und wuschen sie hinüber an den Strand Higashi-Misaki, der auf der Südseite der Insel Taketomi liegt. Dort sammelten sich mit der Zeit die Sternenkörperchen an, und auf diese Weise ist der wunderschöne Sternensand entstanden.

Am Strande Higashi-Misaki gab es einen Utaki, und in diesem heiligen Ort wohnte eine sanfte und liebenswürdige Göttin. Die Himmlische sah die toten Sternenkinder, und sie taten ihr unendlich leid. Sie sammelte eine Handvoll von ihnen auf und legte sie in ihr Weihrauchgefäß vor ihrem Utaki. Dabei dachte sie: „Beim Inselfest werden die Menschen hier Weihrauch verbrennen, dann können diese Sternchen mit dem Rauch zusammen in den Himmel aufsteigen und zu ihrer Mutter, dem Kreuz des Südens, gelangen.” Und wie es die Göttin gehofft hatte, so geschah es auch. Beim nächsten Fest verbrannten die Gottesdiener sehr viel Weihrauch in dem Gefäß, und der Sternensand stieg mit dem heiligen Dunste zusammen hoch hinauf in den Himmel.

Auf der Insel Taketomi ist es seither zur Gewohnheit geworden, jedes Jahr bei der Feier am Higashi-Misaki Strand ohne Fehl neuen Sternensand in das Weihrauchgefäß des Utaki zu füllen. Und jedes Jahr steigen Sternenkinder auf dem Rauch hinauf zu ihrer Mutter. Schon unendlich viele haben diese Reise machen dürfen, und deswegen seht ihr, wenn ihr ganz genau hinschaut, um das Kreuz des Südens viele winzig kleine Sternchen glitzern.

Yaeyama-gun, Taketomi-chô

Anm. Der oberste Himmelsherr: Hier „Ten no Daimyôjin”

Dies ist die einzige Erzählung in Ryûkyû, die über die Entstehung des schönen Sternensandes berichtet. Tôru Uesado hat sie erzählt. Der alte Mann kannte viele Märchen von seiner Insel, und als er starb, nahm er diesen Reichtum seiner Heimat mit sich. Zum Aufzeichnen der Geschichten war keine Zeit mehr gewesen.

Die Yaeyama Inseln, das ist der südlichste Archipel von Okinawa, kennen die meisten Geschichten in Ryûkyû, die sich mit Sternen befassen. (Endô)

Sternensand entsteht aus abgestorbenen Korallenblöcken, die allmählich verwittern. Auf den Yaeyama Inseln, besonders Taketomi, ist er häufig am Strand zu finden. Er sieht, wenn man ihn genau betrachtet, aus wie ein sternförmiges Sandkorn, und manche Sternchen haben tatsächlich sechs Strahlen. Die Strände in Okinawa bestehen zum großen Teil aus Korallensand, sie sind sehr weiß, und der Sand ist verhältnismäßig leicht.

Dieses Märchen ist zum ersten Mal im Herbst 2005 in deutscher Sprache veröffentlicht worden, und zwar in Märchen aus Japan, herg. und übersetzt von Rotraud Saeki. Erschienen im Königsfurt Verlag, Krummwisch.

Frau Rotraud Saeki lebt schon lange in Japan und hat bereits zahlreiche Märchen und Sagen aus Okinawa ins Deutsche übersetzt. Sie hat sich netterweise dazu bereit erklärt uns dieses wunderbare (eine ihrer liebsten Geschichten) Märchen für Japaninfo.at zur Verfügung zu stellen.

Frau Saeki ist unglaublich engagiert wenn es um den kulturellen Austausch zwischen Japan und Nicht-Japan geht und so werden wir sie in Zukunft wohl das eine oder andere weitere Mal hier begrüßen dürfen. Um euch nicht mehr länger im Dunkeln darüber zu lassen, um wen es sich überhaupt handelt hier ein kurzer Umriss:

Hintergrundinformation zu Frau Saeki

  • 1947 geboren in Speyer/Rhein
  • 1966.1971 Studium der Germanistik und Biologie in Mainz
  • 1971- Leben in Japan. Sprachlehrerin, Übersetzerin, Dolmetscherin
  • 2000 “Märchen und Sagen von den Miyako-Inseln” OAG Tôkyô
  • 2005 “Märchen aus Japan”, Königsfurt Verlag, Krummwisch
  • 2006 geplant im Frühjahr: “Märchen und Sagen von Tokashiki”, zusammen mit Endô. OAG Tôkyô

Seit den 90iger Jahren besonders Beschäftigung mit der Märchenwelt von Okinawa. Seither Vorstellen von diesen Märchen auf Märchenkongressen in Deutschland, z.B. auf den Reichelsheimer Märchen und Sagentagen, von 2002 – dato, und bei der Europäischen Märchengesellschaft in 2004 und 2005. Vorträge und Publikationen zu Märchen von Okinawa.

Durch großes Glück und Zufall mit Professor Shôji Endô bekanntgeworden, der die meisten Märchen und Sagen von Okinawa, etwa 73 000, gesammelt und aufgezeichnet hat. Diese Märchen zeichnen sich sehr oft dadurch aus, daß noch bekannt ist, wer sie wo und wann erzählt hat.

Noch ein Hinweis in eigener Sache: Zuallererst lag es mir nahe reale Bilder von Taketomi und dem Sternensandstrand hier zu zeigen. Davon möchte ich aber doch lieber Abstand nehmen und unsere Phantasie Phantasie bleiben lassen. Sicherlich ist Taketomi wunderschön – kein Zweifel – aber wie oft nehmen wir uns heutzutage die Zeit und lassen unserer Vorstellungskraft solch schöne Bilder produzieren?



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