Japanischer Pitaval

Ihara Saikaku: Japanische Parallelfälle im Schatten des Kirschbaums. [Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Michael Kuhl]
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2007
ISBN 978-3-89129-385-0

Sammlungen von Rechtsfällen folgen einer langen Tradition. Im europäischen Kontext wären etwa, mit Einschränkungen, die Digesten zu erwähnen. In späterer Zeit haben die Arbeiten des Franzosen Pitaval bis in die Gegenwart weit verbreitete Nachahmung gefunden. Die historische Kriminologie findet ihr Fundament gewissermaßen in diesen Arbeiten.
In Ostasien liegen die Ursprünge zu solchen Zusammenstellungen natürlich in China. China als Nabel der Welt strahlt mit seinen Errungenschaften in andere Kulturkreise aus. Auf den großen „Einfluss des chinesischen Rechtsdenkens auf das japanische Rechtswesen“(S. 9) wird in der Einleitung des vorliegenden Buches deutlich verwiesen, wenngleich diese komplexen Zusammenhänge zu erhellen, Gegenstand einer eigenen Untersuchung bleiben muss.
Ihara Saikaku, der als Verfasser der „Japanischen Parallelfälle“ [der Titel spielt auf das chinesische Vorbild aus dem frühen 13. Jahrhundert an] gilt, lebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und zählt zu den herausragenden Erzählern des frühen Bürgertums in Japan. Beobachtungsgabe, Kenntnis der menschlichen Schwächen, Spürsinn und eine gesellschaftskritische Note setzten ihn in den Rang eines japanischen Boccaccio oder Balzac. (vgl. S. 12).
Im Gegensatz zum chinesischen Vorbild werden hier keine Gerichtsfälle gegen einander kontrastiert, sondern in fünf Kapiteln zu den Themenkreisen Weisheit, Leidenschaft, Versöhnlichkeit etc. Gerichtsfälle erörtert, die sämtliche in Kyōto, damals eigentlich Heian-kyō, respektive Miyako handeln. Im Mittelpunkt steht jeweils die Person des Ehrenwerten Richters und dessen Entscheidungsfindung. Die geschilderten Vorfälle spiegeln das ganze Spektrum menschlicher Verfehlungen, vom Mord aus niedrigen Beweggründen („Der Kurzbogen der zehn Nächte“, S. 79 ff.), bis zum Disput aus reiner Torheit („Ein ausgegrabener Tonkrug als Gefäß der Begierde“, S. 122 f.). Die Urteilssprüche ergehen dementsprechend drastisch (Hinrichtung) oder moderat, wobei letztere Variante beinahe eine Vorwegnahme der Errungenschaften des außergerichtlichen Tatausgleichs und der Mediation, wie sie etwa die österreichische Rechtspraxis seit Jahren kennt, bezeugt.
Dank der hervorragenden Einführung Michael Kuhls („Die politische Verwaltung Kyōtos und sein Gerichtswesen in der Edo-Zeit“, S. 24 ff.), wird klar, dass etliche Instanzen einer Bemühung des Gerichts zunächst vorgeschaltet waren.
Es herrschten also zu keiner Zeit in Japan amerikanische Verhältnisse, wo das Klagen und Verklagtwerden angeblich geradezu volksportmäßig ausgeübt wird.
Gelegentlich ist von Vorwürfen zu lesen, in Japan bestünde die Rechtsauffassung Gesetze eher als Richtlinien zu deuten, denn als streng verbindliche Normen. Dementsprechend hoch läge auch die Schwelle zur Anrufung von Gerichten. Unabhängig von der Berechtigung einer solchen Einschätzung muss aber die Rechtstradition mit bedacht werden. Die „Japanischen Parallelfälle“ erscheinen mir als hervorragende Illustration auf dem Weg, sich mit der speziellen japanischen Situation vertraut zu machen.
Man kann das Buch aber noch aus zwei anderen guten Gründen der Leserschaft empfehlen. Zum einen ist es anekdotenreich und vermittelt etwas davon, wie die menschliche Natur so verschiedenartig gar nicht gestaltet ist, dass man nicht auch auf Parallelfälle in unserem Kulturkreis stoßen würde. Zum anderen wird durch den von Michael Kuhl akribisch betreuten Anmerkungsapparat eine Fülle an Detailwissen zur japanischen Alltagskultur ausgebreitet, die dem Interessierten überaus nützlich sein kann, seine Kenntnisse zu vermehren oder sich anregen zu lassen, gewisse Aspekte weiterzuverfolgen.



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