Eine Nation der Fotografinnen und Fotografen

Buchtitel: Private fotografische Gebrauchsweisen in Japan. Forschungslage, historische Etappen und ausgewählte Verwendungszusammenhänge
Autorin: Katja Ferstl
Verlag, Erscheinungsjahr: Iudicium, 2013
ISBN 978-3-86205-305-6

Japan ist das führende Kameraproduktionsland. Was Wunder, dass einem das Klischee vom knipsenden japanischen Touristen allenthalben vor Augen geführt wird. Die Dissertation von Katja Ferstl stellt aber nicht darauf ab, sondern auf das Desiderat der wissenschaftlichen Befassung mit privaten fotografischen Gebrauchsweisen. In vielerlei Hinsicht scheint auch da Japan einzigartig zu sein. Wie etwa an der Popularität der Fotoaufkleberautomaten, purikura, ersichtlich ist.
Zunächst sichtet die Autorin einen enormen Literaturapparat zum Thema, woraus der interessierte Laie den einen oder anderen Hinweis ziehen mag. Etwa die Praxis des miai shashin, der Eheanbahnung vermittels Portraitfotografie. Hierauf folgt ein historischer Abriss der Implementierung der Fotografie in Japan. Die soziale Akzeptanz scheint nicht nur mit einer ähnlichen Entwicklung in westlichen Ländern parallel zu laufen, sondern für den speziellen Modernisierungsprozess spätestens ab der Ära Meiji geradezu emblematisch zu sein. Von Japanern betriebene Fotostudios schießen ins Kraut, das persönliche Konterfei wird ein Must-have, Lichtbilder des „authentischen Japan“ beerben das Genre der Ukiyo-e und werden ebenso zum Exportschlager.
Die Ära der privaten Fotografie setzt dennoch erst mit dem Wiedererstarken nach dem Zweiten Weltkrieg ein, mit dem Boomen der Kameraindustrie einerseits, der rasanten Zunahme derer, die einen Apparat ihr Eigen nennen, der Bücher und Zeitschriften, die technische Hilfestellung und Austausch bieten andererseits. Spätestens mit Einführung der Handykamera knipst jeder und jede und neben den Effekten Memorabilien zu schaffen, zu dokumentieren oder künstlerisch zu stilisieren, tritt die fotografische Notiz, die man versendet, in soziale Medien integriert oder nur darum macht, um sie gleich nach dem Vorzeigen wieder zu tilgen.
Gleichwohl unter den Pionieren der japanischen Fotografie auch Fotografinnen ausgemacht werden können, scheint die Ambition als Freizeitbeschäftigung junger Frauen besonders im letzten Dezennium des 20. Jahrhunderts eine dominierende zu werden, wie etwa an Hiromix deutlich wird, die das Genre des shi-shashin als „photo diary style“ fortführt (S. 143), lange bevor in den Untiefen des Internet dies als Gestus eines gewissen Exhibitionismus ausufert.
Vermittels einer Fragebogenerhebung gewinnt Ferstl ein Datenvolumen, das in weiteren Kapiteln des Buches ausgewertet wird. Im Fokus der Familienfotografie finden sich im Verlauf ihrer Entwicklung die gleichen Sujets. „Grundsätzlich lassen sich (…) im Hinblick auf die bevorzugte Motivwahl im Bereich privater Fotos in Japan kaum wesentliche Veränderungen feststellen.“(S. 253)
Die Diskussion um die Bewertung der Varianten der Amateurfotografie könnte der japanische Begriff kinen shasin, Erinnerungsfotografie, beleben. Die besondere Bedeutung dieser „Bestandteile der eigenen, visuell konstruierten Lebensgeschichte“(S. 255) ist zuletzt in den Auswirkungen des Großen Ostjapanischen Bebens zutage getreten. Menschen, denen in den Verheerungen zunächst nur das nackte Überleben blieb, klagten über den Verlust ihrer privaten Bildarchive.



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